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Der bewaffnete Freund

Der bewaffnete Freund

Titel: Der bewaffnete Freund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raul Zelik
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dem Stadttheater. Sie nimmt gerade eine Menschenmenge ins Visier, die sich am Ausgang der Altstadt neu gesammelt hat und offensichtlich eine Hauptverkehrsstraße hinaufziehen will. Viele Demonstranten sind Rentner, Menschen über fünfzig, Leute, denke ich, die wegen ihrer Kinder hier sind, wegen ihrer einsitzenden Söhne und Töchter.
    Ich schiebe mich an den Polizisten vorbei in eine Nebenstraße und wechsele die Seiten. Als ich die Menschenansammlung erreiche und mich hinter den Plakaten einreihe, auf denen Fotos der Toten zu sehen sind, Fotos der gestorbenen Gefangenen, schwirren bereits Hartgummikugeln durch die Luft. Schreiend stiebt die Menge auseinander, wie alle anderen versuche ich mich in einen Hauseingang zu pressen, ein alter Mann neben mir stolpert und flucht. Die Kugeln schlagen mit einem Klatschen auf dem Pflaster auf und springen die Altstadtgasse nach oben.
    Eine Weile bleibe ich zusammengekauert in dem Hauseingang. Mir fällt eine Fernsehreportage ein, die ich einige Tage zuvor im Fernsehen gesehen habe. Sie berichtete von den argentinischen Müttern der Plaza de Mayo, den Verwandten der Verschwundenen, die einst den Friedensnobelpreis erhalten haben. Dass Vertreterinnen der argentinischen Mütter regelmäßig nach Europa kommen, um sich mit den Angehörigen in der Region um X zu solidarisieren, wurde in der Reportage nicht erwähnt. Auch nicht, dass die Verschwundenen in Argentinien einst aus dem gleichen Grund verfolgt worden sind wie Zubieta und seine Leute: als Terroristen.
    Genau das, denke ich, ist Europa, genau damit müssten sich Leute wie Haberkamm auseinandersetzen: Dass die Verhältnisse, die sie in der Welt kritisieren – Guantánamo, Ausnahmezustand, Rechtlosigkeit – konstituierender Bestandteil auch der europäischen Wirklichkeit sind. Doch genau davon wollen sie alle nichts wissen.
    Die Menschen flüchten sich in anliegende Kneipen. Ich schließe mich einigen Jüngeren an, die über eine Seitenstraße ins Viertel San Francisco drängen. Wir überqueren eine von der Polizei noch nicht blockierte Brücke, laufen den Hang Richtung Neustadt hinauf. Um unsere Verfolger aufzuhalten, schiebt eine Gruppe einen Container auf die Straße und zündet ihn an. Trotzdem bleibe ich bei der Menge, haste mit den anderen, vielleicht siebzig Personen, die Calle San Francisco hinauf, komme an der Kneipe von Hamid vorbei, dem Berber, bei dem Rabbee und ich vor einem Monat gegessen haben, an den afrikanischen Geschäften, in denen Telefonkarten, Haarglättungsmittel und, wenn man den Gerüchten glauben darf, auch Heroin verkauft werden, an Hauseingängen, in denen Zuhälter ihre Prostituierten anpreisen. Eine Gruppe junger Roma grölt uns etwas zu – ich weiß nicht, ob es anfeuernd oder provozierend gemeint ist. »Viva España«, schreien sie, aber auch »Die Polizei mordet«, ein vielleicht Fünfzehnjähriger hebt eine Bierflasche. Wir drängen weiter, durch das einzige Problemviertel von X, drei Straßenzüge, in denen man das Gefühl hat, sich in einer Großstadt zu befinden, und stoßen dann, bevor wir die Brücke über die Eisenbahntrasse erreichen, die das Viertel begrenzt, doch nur wieder auf die Sondereinheit, die sich bereits in Stellung gebracht hat, um uns den Zugang zu den Verkehrsknotenpunkten zu versperren. Es ist wie der Wettlauf zwischen Hase und Igel: Sie sind immer schon da.
    Wenn sie jetzt mit Verhaftungen anfangen, denke ich, könnte ich noch davonkommen. Ich bin ein Passant, ein Ausländer, der sich in eine missliche Lage gebracht hat, der nicht genau versteht, was hier geschieht. Doch wenn ich weiterlaufe, wird man mir meine Ausrede nicht länger abnehmen. Zögernd bleibe ich stehen: Dümmer kann man sich kaum anstellen: Haberkamm ist in der Stadt, sein Freund Salvatore hält Leute wie mich für Faschisten, Zubieta wartet ein paar Hundert Kilometer südöstlich in einer Ferienwohnung darauf, dass ich ihn abhole. Während ich mein Gesicht in Überwachungskameras strecke. Was zum Teufel mache ich hier?
    Dennoch bleibe ich noch eine fast Stunde bei der Menschenmenge, die sich immer wieder zerstreut und neu sammelt, um aus der Altstadt zu den größeren Verkehrsadern von X zu gelangen.
     
    Erst viel später setzt sich die Vernunft doch noch durch, beziehungsweise die Erschöpfung. Ich bleibe in einer Kneipe sitzen, in die ich mich mit einer Gruppe Demonstranten geflüchtet habe und blicke stumpf auf die Flaschen hinter der Theke: Likör-, Cognac-, Whisky-Sorten, von denen ich noch

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