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Der Beweis des Jahrhunderts

Der Beweis des Jahrhunderts

Titel: Der Beweis des Jahrhunderts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Masha Gessen
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Stadt Puschkin. Grischa wohnte mit Mutter, Vater und kleiner Schwester in einem trostlosen Neubauwohnblock in Kuptschino, einem Vorort weit außerhalb im Süden Leningrads. Rukschin und sein Schüler nahmen zusammen die U-Bahn bis Kuptschino, der Endhaltestelle, von dort ging Grischa zu Fuß nach Hause, während Rukschin in einen Vorortzug mit harten Holzbänken umstieg und bis Puschkin noch weitere zwanzig Minuten fahren musste. Während dieser Fahrten entdeckte er neue Dinge an Grischa. Zum Beispiel, dass dieser in der U-Bahn nie die Ohrenklappen seiner Pelzmütze aufband. »Nicht nur, dass er die Mütze aufbehielt«, erinnerte er sich, »nein, nicht einmal die Ohrenklappen schlug er hoch. Sei 55 ne Mutter, sagte er, würde ihn umbringen, wenn er das täte. Die Mütze, das habe sie ihm eingeschärft, solle er nie abnehmen oder aufmachen, er werde sich sonst erkälten.« Die U-Bahn war normalerweise geheizt, aber die Maschinerie, die in Grischas Hirn arbeitete, der Verdichter, ließ keinen Spielraum, um auf derartige Umstände und deren Feinheiten zu reagieren. Regeln waren Regeln.
    Wenn Rukschin Grischa tadelte, weil er nicht genug las – er hielt es für seine Pflicht, die Kinder nicht nur mit der Mathematik vertraut zu machen, sondern auch mit Literatur und Musik –, fragte Grischa zurück, wozu er denn Bücher lesen solle. Und auf Rukschins Erklärung, Lesen sei »interessant«, habe er erwidert, wenn es etwas gebe, das man lesen müsse, würde es ja wohl Pflichtlektüre in der Schule sein. Mit der Musik hatte Rukschin mehr Glück. Als Grischa in den Club kam, war sein Geschmack auf klar strukturierte klassische Instrumentalmusik beschränkt, zumeist Stücke mit Violinensoli. Wenn er an einer Aufgabe arbeitete, ließ er oft etwas hören, was seine Clubkameraden das »Geheul« nannten, »akustischen Terror«. Danach gefragt, erklärte er, er summe Introduction et Rondo capriccioso en la mineur von Camille Saint-Saëns, eine wegen ihrer Klarheit und des Violinensolos bemerkenswerte Komposition für Violine und Orchester. Während eines Sommerlagers aber gelang es Rukschin, seinen Schüler für Vokalmusik zu interessieren, mit der sich Grischa dann auf systematische Weise mehr und mehr vertraut machte: Zuerst akzeptierte er die tieferen Stimmen, ging dann allmählich zu Sopranstimmen über. Als Rukschin dann noch versuchte, ihn auch für Kastratenstimmen zu interessieren, zog er jedoch eine Grenze: Das sei »unnatürlich« und damit »uninteressant«.
    56 Rukschin war keineswegs enttäuscht von seinem Schüler, im Gegenteil: Ganz offensichtlich gefiel ihm Perelmans einseitige Veranlagung. In dieser liebevollen Verbindung von Lehrer und Schüler wurden beide immer mehr zur besseren Hälfte des jeweils anderen. Perelman konnte der Wettkämpfer sein, der Rukschin nie war; dieser wiederum regelte in Perelmans Namen die Kontakte mit der Außenwelt und beschützte seinen Schüler zugleich vor ihr. Auch suchten sie – wohl vor allem Rukschin – geradezu Situationen, in denen sie sich auf ganz praktische Weise ergänzten. Im Sommerlager, in dem der fünfzehnjährige Perelman zum ersten Mal in seinem Leben von seiner Mutter getrennt war, kümmerte sich Rukschin um dessen alltägliche Bedürfnisse. Die Körperpflege war eine heikle Angelegenheit, doch ab und an gelang es Rukschin, Grischa dazu zu bewegen, seine Socken und Unterwäsche zu wechseln und die schmutzigen Sachen wenigstens in eine Plastiktüte zu stecken, denn Grischa weigerte sich, sie zu waschen – so wie er sich auch oft weigerte, sich selbst zu waschen. Er ging auch nicht mit den anderen Jungen schwimmen. Er mochte Wasser nicht und vor allem sah er nicht ein, wozu ein so geistloser Zeitvertreib, einer, in dem es nicht einmal Wettbewerb gab, gut sein sollte. (Allerdings spielte er ausgezeichnet und mit großem Ehrgeiz Tischtennis.) So machte Rukschin seinen Schüler zur Erweiterung seiner selbst: Wenn er mit den anderen Jungen schwimmen ging und mit seinem Körper die Grenze zum tiefen Wasser markierte, über die sie nicht hinausschwimmen durften, saß Perelman am Ufer und zählte die Köpfe, damit keiner verloren ging. Mit der Zeit fand Rukschin weitere Möglichkeiten, um Perelmans Hirn als die effizien 57 tere Erweiterung seines eigenen zu benutzen. Als Perelman an der Universität studierte, sichtete er dort Tausende von Mathematikaufgaben, um für das Training geeignete auszuwählen. »Das war eine Arbeit, die ich, sagen wir, in einer Zeit t hätte

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