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Der Beweis des Jahrhunderts

Der Beweis des Jahrhunderts

Titel: Der Beweis des Jahrhunderts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Masha Gessen
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und Koautor von Alexandrow, 3 »aber Alexandrow konnten sie nicht mit einem Nein abspeisen«. Waleri Ryschik, der bei diesem Gespräch neben Werner saß, pflichtete ihm bei und fügte hinzu, dass Alexandrow ihm persönlich erzählt habe, was in dem Brief stand, nämlich »dass dies genau eine jener Ausnahmesituationen« sei, »in denen die ethnische Frage außer Acht gelassen werden sollte«. Abgesehen davon, dass Alexandrow oder Ryschik oder auch beide offenbar der Ansicht waren, die ethnische Frage sei normalerweise durchaus zu berücksichtigen – ist das Bemerkenswerte an dieser Ge 156 schichte, dass die ganze Leningrader Mathematikergemeinde mit von der Partie war. Alle – außer Perelman.
    »Ich wusste, dass Grischa Probleme mit der Zulassung haben würde«, sagt Golowanow, »in seinen Papieren stand, dass er Jude war, in meinen dagegen nicht. Also wurde die Sache auf höchster Ebene geregelt, auf einer Ebene, die für mich zur damaligen Zeit unerreichbar war. Schon komisch. Ich meine, Grischa ist Grischa, aber trotzdem war er nicht mehr als ein strebsamer Student, der seinen Doktor machen wollte. Und nun gab es Akademiemitglieder, die sich für ihn in die Schlacht warfen.«
    Ich fragte ihn, ob Grischa aktiv an der ganzen Aktion beteiligt gewesen sei oder sich vielmehr gar nicht darum gekümmert habe. »Aktiv an etwas beteiligt sein oder sich nicht darum kümmern sind nicht die einzigen Möglichkeiten.« Mit zufriedenem Lächeln lehnte sich Golowanow in seinem Sessel zurück und wiederholte einen Satz, den er in unseren Gesprächen ständig gebrauchte: »Grischa ist sehr klug, ich kann es nicht oft genug wiederholen. Das ist eine Feststellung, die nichts mit seiner Begabung für die Mathematik zu tun hat, die ja niemand infrage stellt. Grischa ist ein sehr kluger Mensch. Das heißt, ich kann mir nicht vorstellen, dass er sich nicht um die Sache gekümmert hat. Aber ich muss zugeben, dass wir zu der Zeit nicht darüber gesprochen haben.«
    Mit anderen Worten: Golowanow und Perelman, die sich seit mehr als zehn Jahren kannten, den größten Teil ihrer mathematischen Ausbildung Seite an Seite durchlaufen hatten und sich gemeinsam auf die zwei Zulassungsprüfungen für das Promotionsstudium (eine in ihrem mathematischen Spezialgebiet und eine in Geschichte der 157 Kommunistischen Partei) vorbereiteten, waren sorgsam darauf bedacht, über diesen wichtigen Punkt nicht zu reden. Golowanows Motiv scheint klar: Er ist ein äußerst höflicher Mensch, und es war ihm fast schmerzhaft bewusst, wie empfindlich sein Freund war. Zudem war ihm auch schon damals, das heißt 1987 , klar, dass er ungerecht bevorteilt war, weil in seinen Papieren schlicht nicht stand, dass er Jude ist. Auch Perelmans Verhalten lag ganz in seinem Wesen begründet. Dieses byzantinische und diskriminierende Zulassungssystem konnte unmöglich in sein Bild einer gerechten und meritokratischen Welt der Mathematik passen. Womöglich war er nicht nur nicht bereit, sondern sogar unfähig, über die Unsicherheit seiner mathematischen Zukunft sowie die Maßnahmen, die andere zu ihrer Rettung unternahmen, zu sprechen.
    Tatsächlich ging Perelman mit dem Zulassungsproblem auf ziemlich ähnliche Weise um wie seinerzeit Salgaller. Diesem war die Vorstellung, jemandem etwas schuldig zu sein, derart verhasst, dass er sich selbst aus dem korrupten und korrumpierenden System entfernt hat, indem er sich eigenhändig von der Liste strich. Perelman, der sich ebenfalls nicht vorstellen konnte, irgendjemandem etwas zu schulden, ignorierte die Vorgänge hinter den Kulissen seines Zulassungsverfahrens, so als blende er diesen Teil der Geschichte einfach aus. Und wie die Dinge lagen und wie sie ihm von seinen Lehrern vermittelt wurden, tat er genau das Richtige: Die Demütigungen, die das Sowjetsystem seinen Wissenschaftlern und besonders den Juden unter ihnen zufügte, hatten mit Mathematik nichts zu tun und schon gar nicht konnten sie das Denken eines Mathematikers beeinflussen. In der zweiten Hälfte des zwanzigsten 158 Jahrhunderts haben jene sowjetischen Mathematiker, die Mathematik so betreiben wollten, wie es sich gehört, es für gewöhnlich akzeptiert, in die Welt der inoffiziellen Mathematik abgeschoben zu werden, wo sie zwar keinerlei Vergünstigungen erhielten, aber wissenschaftlich arbeiten konnten. Diejenigen, die dem offiziellen Mathematikbetrieb angehörten, hatten die Büros, die Gehälter, die von der Akademie der Wissenschaften zugeteilten Wohnungen und

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