Der Beweis des Jahrhunderts
konnten gelegentlich sogar ins Ausland reisen. Dafür mussten sie Ideologie, Diskriminierung und Korruption in Kauf nehmen. Perelmans totalisierender Geist hätte eine solche Dichotomie nicht ertragen. Er würde Mathematik betreiben, und zwar so, wie es sich gehörte und auch wo es sich gehörte: am Leningrader Steklow-Institut für Mathematik. Das Wohlwollen der Kollegen, die in seinem Namen intervenierten, und die Liebenswürdigkeit von Freunden, die das Thema in seiner Gegenwart nicht forcierten, machten ihm genau das möglich: weiter in einer Welt zu leben, wie er sie sich vorstellte.
Im Herbst 1987 wurde Grigori Perelman Doktorand am Leningrader Steklow-Institut. Als offizieller Betreuer seiner Dissertation zeichnete Alexander Danilowitsch Alexandrow verantwortlich – womit Perelman der letzte Mathematiker ist, dem diese Ehre zuteilwurde –, de facto aber ließ sich Perelman in Buragos Abteilung nieder. Auch wenn das damals niemand ahnte: Es gab nie eine bessere Zeit, nie einen besseren Platz für einen Mathematiker, um seine Forschungskarriere in Angriff zu nehmen.
Ein gutes Jahr vor Perelmans Abschluss an der Leningrader Staatsuniversität kündigte Michail Gorbatschow, 159 damals Generalsekretär der Kommunistischen Partei, eine Reihe weitreichender Reformen an, die er »Perestroika« nannte. Ende 1986 durfte der Physiker Andrei Sacharow, Nobelpreisträger und führender Menschenrechtler der Sowjetunion, aus Gorki, wo er unter Hausarrest stand, nach Moskau zurückkehren. Zu Beginn des Jahres 1987 wurden die politischen Gefangenen in der Sowjetunion freigelassen, angeblich alle. 1988 , kurz nachdem Perelman Doktorand geworden war, begann die Ära von Glasnost, das kurze Goldene Zeitalter der sowjetischen Intellektuellen. Plötzlich ging die Leserschaft so genannter »dicker intellektueller Zeitschriften« ( tolstye zhurnaly ) in die Millionen und es begann eine landesweite öffentliche Diskussion über Russlands Zukunft. 1989 , das Jahr, in dem Perelman an seiner Dissertation schrieb, saß das ganze Land wie gebannt vor dem Fernseher, um die erste halbdemokratische Wahl und danach die ersten offenen Parlamentsdebatten seines Lebens zu verfolgen. So mitreißend war die Stimmung damals, dass selbst jemand, der Politik so sehr verachtete wie Perelman, sich dem Geist der Zeit nicht ganz entziehen konnte.
Es war ein außerordentlicher Glücksfall, dass Perelman seine Karriere einige Jahre vor den Wirtschaftsreformen der frühen 1990 er Jahre begann, denn diese stürzten die Forschungseinrichtungen in größte finanzielle Schwierigkeiten und verurteilten russische Akademiker dazu, sich entweder von einem Forschungsauftrag zum anderen zu hangeln oder zwischen Lehraufträgen im Ausland und Forschungsstellen in Russland hin- und herzutingeln. Ende der 1980 er Jahre, so Golowanow, lag ein Promotionsstipendium immerhin noch »um zehn Rubel pro Monat über 160 dem Lohnniveau, von dem man gerade noch leben konnte«. Zugleich war die wichtigste Veränderung in der Funktionsweise der sowjetischen akademischen Einrichtungen bereits in Gang: Der Eiserne Vorhang hob sich. Sowjetische Wissenschaftler begannen, ins Ausland zu reisen, ausländische Wissenschaftler konnten ungehindert kommen und gehen, die Zensur ausländischer Fachzeitschriften wurde aufgehoben (die Wirtschaftskrise hatte noch nicht dazu geführt, dass die Bibliotheken keine Bücher mehr bestellen konnten) und die Kommunikation per Post oder Telefon war von nun an so leicht möglich, wie sie es schon immer hätte sein sollen. In Einrichtungen wie dem Steklow-Institut verbreitete sich das Gefühl, dass Veränderungen und neue intellektuelle Möglichkeiten in der Luft lagen. Perelmans Weg in die internationale mathematische Elite stand nun nichts mehr im Weg – und seine Weltsicht würde nicht mehr hinterfragt werden. Zudem lernte er nun Michail Gromow kennen.
Ab einem bestimmten Punkt stand Michail Gromows Name in Verbindung mit allen wichtigen Dingen, die Perelman tat. Alle Gesprächspartner, die mir helfen sollten, seinen Werdegang nach der Promotion zu verfolgen, kamen auf Gromow zu sprechen: Er sei es gewesen, der Perelman für diese oder jene Stelle vorschlug, er habe ihn zu dieser Tagung mitgenommen, er habe jenen Artikel zusammen mit ihm geschrieben.
Salgaller nennt Gromow »das Beste, was die Universität Leningrad jemals hervorgebracht hat«. Gromow wurde dort 1968 , im Alter von fünfundzwanzig Jahren, von Wladimir Rochlin promoviert, von
Weitere Kostenlose Bücher