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Der Beweis des Jahrhunderts

Der Beweis des Jahrhunderts

Titel: Der Beweis des Jahrhunderts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Masha Gessen
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Vermutung zu arbeiten. Natürlich gab er Geld aus und hatte auch nichts dagegen, welches zu haben, aber sein Bedarf hielt sich doch sehr in Grenzen und gewiss spürte er keinerlei gesteigertes Verlangen danach. Schließlich wollte er sich mit seiner Entscheidung, 229 seinen Beweis in arXiv zu stellen, explizit dagegen auflehnen, dass wissenschaftliche Fachzeitschriften nicht frei zugänglich sind, sondern über kostenpflichtige Abonnements verbreitet werden. 6 Und nun, nachdem er eines der schwierigsten Probleme der Mathematik gelöst hatte, würde er erst recht niemanden bitten, seinen Beweis für eine Veröffentlichung zu prüfen.
    Bevor er in die USA reiste, hatte Perelman allen, die es wissen wollten – Mike Anderson beispielsweise hatte vorsichtig angefragt –, klar zu verstehen gegeben, er wünsche zu diesem Zeitpunkt keine Öffentlichkeit außerhalb seines wissenschaftlichen Umfelds. Er hatte nicht gesagt, dass er niemals eine größere Öffentlichkeit haben wollte, sondern nur, dass gegenwärtig nicht der richtige Zeitpunkt dafür sei. Und so konsequent er Anfragen von Journalisten abwehrte, so entspannt war seine Haltung, wenn es darum ging, im Kollegenkreis die Werbetrommel für seine Vorträge und seine Arbeit zu rühren: Er ließ den Organisatoren seiner Vorträge die Freiheit, für Einladungen Adressen von Kollegen zu benutzen, wie es ihnen beliebte. 7 Mathematikern fast jeder Couleur vertraute er eigentlich bedingungslos, aber ebenso instinktiv war sein Misstrauen gegenüber Journalisten. Der Artikel in der New York Times nährte aber nicht nur dieses Misstrauen – die Autorin hatte Ereignisse und Motive in allen von Perelman möglicherweise befürchteten Hinsichten fehlinterpretiert –, er untergrub auch sein Vertrauen in seine Kollegen. Denn eine der beiden Quellen, die die Journalistin anführte, war ein Mathematiker, der Tians Seminar und Perelmans Vorträge besucht hatte. Thomas Mrowka war kein unbeteiligter Beobachter, und dennoch hatte er sich 230 zu einer Einschätzung hinreißen lassen, die das perfekte Resümee für diesen Artikel abgab, Perelman aber gewiss hat erschauern lassen: »Entweder hat er es geschafft oder zumindest einen wirklich gewaltigen Fortschritt gemacht, in jedem Fall werden wir davon lernen.«
    An dem Tag, an dem Perelman vom MIT abreisen wollte, ging er mit Tian zum Mittagessen über den Fluss in Bostons historischen Stadtteil Back Bay. Er war gut gelaunt und sprach sogar über die Möglichkeit einer Rückkehr in die Vereinigten Staaten, er habe Angebote aus Stanford, Berkeley, vom MIT – zu diesem Zeitpunkt hätte er an jedem mathematischen Fachbereich der Vereinigten Staaten eine Stelle bekommen, und zwar zu Bedingungen, die seinen Wünschen entsprachen. Nach dem Mittagessen machten die beiden Mathematiker, wie es sich in Boston gehört, einen Spaziergang am Charles River entlang. Perelmans gute Laune war inzwischen verflogen und eine gewisse Sorge muss ihn ergriffen haben, denn er vertraute Tian schließlich an, dass es Probleme zwischen ihm und Burago gebe – mit den russischen Mathematikern überhaupt. Tian schwieg sich erneut über die Einzelheiten aus und äußerte lediglich Zweifel daran, ob sein Freund dieses Mal im Recht sei. Aber der Bruch wurde in St. Petersburg derart heftig diskutiert, dass es nicht schwer war, die Einzelheiten in Erfahrung zu bringen. Auslöser des Konfliktes war ein Mitarbeiter in Buragos Labor, dessen Umgang mit Quellen Perelman plagiatsverdächtig fand. Der Mann folgte einer allgemein akzeptierten Fußnotenpraxis, indem er nur auf die letzte Veröffentlichung zu einem Thema verwies und nicht alle überhaupt verfügbaren Informationen darüber lieferte. Perelman hatte vom notorisch tole 231 ranten Burago verlangt, dass dieser seinen Mitarbeiter deswegen öffentlich maßregelte. Burago weigerte sich und habe sich damit, so Perelmans Standpunkt, zum Komplizen von etwas gemacht, das fast einem Verbrechen gleichkam. Im ganzen Steklow-Institut konnte man hören, wie er seinen Mentor anschrie. 8 Er verließ dessen Labor und fand in dem von Olga Ladyschenskaja Zuflucht, bei einer bemerkenswerten Mathematikerin, die alt genug, klug genug und Frau genug war, um Perelman so zu nehmen, wie er eben war. 9 Alle anderen – auch Burago und Gromow, die Perelman im Allgemeinen für nahezu fehlerlos hielten – schienen bereit, ihm zu vergeben, sahen sich aber außerstande, seine Fußnotenpolitik zu akzeptieren. Bestenfalls fanden sie sie kapriziös,

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