Der Beweis des Jahrhunderts
dennoch unter die Zuhörer.
Es ist kaum zu glauben, aber alle, die gekommen waren, um ein mathematisches Spektakel zu erleben, bekamen es. Im Gegensatz zu seiner Rede auf dem Internationalen Mathematikerkongress 1994 in Zürich legte Perelman einen gut organisierten, luziden und manchmal sogar unterhaltsamen Vortrag hin. Er war auf dem Höhepunkt seiner Beziehung zur Poincaré-Vermutung. Wäre diese ein menschliches Wesen, es wäre vielleicht der Moment gewesen, in dem sich Perelman entschieden hätte, sie zu heiraten: Es war die Zeit, in der er ihre ganze gemeinsame Geschichte klar überblickte, in der er in höchstem Maße frei von Zweifeln und seiner Zukunft sicher war.
Nach seiner ersten Präsentation hielt Perelman zwei Wochen lang fast jeden Tag Vorträge vor kleineren Gruppen. Stundenlang beantwortete er Fragen, die hauptsächlich die Geometrisierungsvermutung betrafen. Morgens vor seiner Vorlesung ging er meist bei Tian im Büro vorbei, um sich zu unterhalten, natürlich fast ausschließlich über Mathematik. Möglicherweise hielt er Ausschau nach neuen Problemen, die er bearbeiten könnte. Er fragte ihn über dessen Forschungsarbeit aus, entwickelte sogar Gedanken zu Tians damaligem Spezialgebiet. Im Unterschied 227 zu Anderson und Morgan – die immer wieder versuchten, Perelman aus der Reserve zu locken – wagte sich Tian nur selten aus dem begrenzten Gebiet mathematischer Fachdiskussionen heraus. »Er war sehr konzentriert und zielstrebig«, sagte mir Tian. »Ich respektiere, dass er viele Dinge einfach ignoriert, die andere Leute für wichtig halten, und sich ganz auf die Mathematik konzentriert.«
Perelman wirkte so entspannt und freundlich während dieses Aufenthalts, dass sich Tian bei einer ihrer morgendlichen Unterhaltungen traute, die Frage anzuschneiden, ob er nicht am MIT bleiben wolle. Die Universität wollte ihm ein Angebot machen, und einige Kollegen Tians waren am Vorabend auf Perelman zugegangen, um ihn davon zu überzeugen, dass er mit den Mitteln des MIT produktiver arbeiten könne. Nun wollte Tian natürlich wissen, was dieser davon hielt. Perelmans Antwort darauf wollte mir der höfliche, extrem leise sprechende Tian allerdings nicht verraten: »Er hat ein paar Bemerkungen gemacht. Aber ich möchte sie nicht wiederholen.« Das Problem bestand nicht nur darin, dass Perelman zu dieser Zeit kein Interesse hatte, in den Vereinigten Staaten zu bleiben. Vor allem den Gedanken, man wolle ihn jetzt mit einer komfortablen Stellung an der Universität belohnen, empfand er als Beleidigung. Vor acht Jahren hatte er eine ordentliche Professur erwartet. Sein Gehirn war damals dasselbe gewesen wie jetzt, und er hatte die Stelle damals ebenso verdient wie jetzt; und doch musste er ihnen beweisen, dass er gut genug war, um Mathematik zu unterrichten. Nun verhielten sie sich, als hätte er diesen Beweis endlich erbracht, wo er doch in Wahrheit die Poincaré-Vermutung bewiesen hatte, was genug Belohnung an sich ist.
228 Und so, erzählte Tian, hätten sie sich wieder ihren zivilisierten Diskussionen über Mannigfaltigkeiten, Metrik und Schätzungen zugewandt. Es war nicht das einzige Mal, dass sich Perelman verärgert zeigte. Der erste »Zwischenfall«, wie Tian es nannte, muss sich am 15 . April zugetragen haben, gegen Ende von Perelmans Aufenthalt am MIT , als in der New York Times ein Artikel erschien mit der Überschrift »Russe gibt Lösung eines berühmten mathematischen Problems bekannt«. 5 Jedes Wort in der Überschrift empfand Perelman als Beleidigung. Er hatte nichts »bekanntgegeben«, vielmehr sorgfältig darauf geachtet, sich über seine Arbeit nur zu äußern, wenn er direkt gefragt wurde. Die Poincaré-Vermutung »berühmt« zu nennen, und das in einem Massenblatt, war aus Perelmans Sicht dummdreist und vulgär. Und auch im Artikel selbst stapelten sich die Beleidigungen. Im vierten Absatz hieß es: »Wenn sein Beweis zur Veröffentlichung in einer angesehenen Fachzeitschrift angenommen wird und eine zweijährige Prüfungszeit übersteht, könnte Dr. Perelman ein Preis von einer Million Dollar zugesprochen werden.« Das konnte doch nur so verstanden werden, als habe sich Perelman des Problems angenommen, um die Million zu gewinnen – als sei er überhaupt an Geld interessiert –, und dass er seine Arbeit tatsächlich in einer angesehenen Fachzeitschrift veröffentlichen werde. Kein Wort davon wahr! Schon Jahre bevor der Clay-Preis gestiftet wurde, hatte er begonnen, über die
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