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Der Beweis des Jahrhunderts

Der Beweis des Jahrhunderts

Titel: Der Beweis des Jahrhunderts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Masha Gessen
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die Poincaré-Vermutung bewiesen zu haben, aber in fast hundert Jahren hatte dennoch niemand das Problem gelöst. Alle, auch hochberühmte Mathematiker – sogar Poincaré selbst –, hatten Fehler gemacht. Angebliche Beweise er 221 schienen alle paar Jahre, und alle wurden sie entzaubert – manche früher, manche später. Man musste Perelman kennen – wissen, dass er nie »Zitronen« produzierte, wie seine Freunde aus dem Matheclub sagten, und dass er eine Vorliebe für genau kalkulierte Gesten hegte –, um einschätzen zu können, wie ernst gerade dieser Vorstoß zu nehmen war.
    Wie aber sollte man nun entscheiden, ob dieser Beweis tatsächlich richtig war? In dem Artikel waren Techniken und auch Probleme aus mehreren mathematischen Spezialgebieten, nicht nur aus der Topologie, versammelt. Außerdem war Perelmans Darstellung so dicht, dass man, um seinen Beweis beurteilen zu können, das Ganze im Grunde zunächst einmal entschlüsseln musste. Er gab auch keine Hilfestellung, indem er etwa von Anfang an klar sagte, was er tun und wie er vorgehen wollte. Er behauptete noch nicht einmal, die Poincaré- und die Geometrisierungsvermutung bewiesen zu haben – es sei denn, man fragte ihn direkt danach. Andersons E-Mails waren erste Schritte, um diesen Verifikationsprozess einzuleiten. Sie besagten in etwa Folgendes: Dieser Kerl ist ernst zu nehmen , und bitte lasst mich wissen, ob er tatsächlich das getan hat, was ich glaube, dass er getan hat. Anderson schrieb diese E-Mail, am Tag nachdem er Perelmans E-Mail mit dem Hinweis auf seinen Artikel erhalten hatte, und zwar um 5 : 38 Uhr morgens.
    Innerhalb weniger Stunden gingen bei Anderson Antworten von Geometern ein; auch sie hatten offenbar die ganze Nacht damit zugebracht, den Artikel zu lesen. Ihre Reaktionen zeigten, dass die »Ricci-Fluss-Gemeinde«, wie sie unter Mathematikern hieß, völlig aus dem Häuschen 222 war – und dass keiner von ihnen jemals von Perelman gehört hatte.
    Zur »Ricci-Fluss-Gemeinde« gehörte keiner der Topologen, die Perelman in den Vereinigten Staaten kennengelernt hatte. Ihr Mittelpunkt war Richard Hamilton – der wichtigste Adressat von Perelmans Ankündigung und in gewissem Sinne des ganzen Artikels. Während die E-Mails zwischen den Geometern hin- und hergingen, hüllte sich Hamilton in Schweigen. »Habt Ihr schon einen Eindruck von Perelmans Arbeit gewonnen?«, schrieb Anderson ein paar Tage später an einen Kollegen aus der »Ricci-Fluss-Gemeinde«. »Schaut sich irgendwer von Euch aus der Hamilton-Gruppe den Artikel an? Weiß Hamilton davon? Irgendeine Ahnung, wie nahe [Perelman] dran ist, das Programm zum Abschluss zu bringen?«
    Hamilton wusste von dem Artikel, berichteten die Korrespondenten. Der Artikel musste also wirklich bedeutsam sein.
    Tatsächlich war Perelman nach noch nicht einmal der Hälfte seines ersten Artikels über den Punkt hinausgelangt, an dem Hamilton seit zwei Jahrzehnten festsaß. Kein Wunder, dass dieser sich nicht rührte. Wie muss es sich anfühlen, wenn ein Emporkömmling mit struppigen Haaren und langen Fingernägeln daherkommt, einem den Lebenstraum erst entreißt und dann erfüllt? Um sich das vorstellen zu können, muss man verstehen, wie sehr das menschliche Verhalten von ehrgeizigen Träumen, Konkurrenz und aus beruflichem Erfolg sich speisendem Selbstwertgefühl motiviert wird – und nicht etwa von dem, was für die Mathematik das Beste ist. Grischa Perelman verstand das nicht.
    223 In der Tat ist es einer der bemerkenswerten Aspekte in der Geschichte von Perelmans Beweis, wie viele Mathematiker ihre eigenen beruflichen Ambitionen eine Zeit lang hintanstellten, um sich der Entschlüsselung und Interpretation seiner Artikel zu widmen. Im November 2002 hielt sich Bruce Kleiner in Europa auf. Kurz bevor er mit dem Vortrag, zu dem ihn die Universität Bonn eingeladen hatte, beginnen wollte, wurde er von Ursula Hamenstädt, einer Professorin dieser Universität, die im Publikum saß, gefragt: »Ach übrigens, haben Sie den Beweis der Geometrisierung der Poincaré-Vermutung gesehen, den Perelman vor Kurzem ins Netz gestellt hat?« So jedenfalls erinnerte er ihre Worte. Sie hätte in ihrer Bewertung vielleicht etwas vorsichtiger sein sollen – aber Kleiner wusste natürlich, wie ernst Perelman zu nehmen war.
    »Keiner, der seine Artikel kannte oder Vorträge von ihm gehört hatte, hat je behauptet, er erhebe Ansprüche, die er nicht einlösen kann, oder sage Dinge, die er nicht sorgfältig

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