Der Beweis des Jahrhunderts
durchdacht hätte«, so Kleiner. »Und jetzt hatte er etwas in arXiv gestellt, in ein sehr öffentliches Forum. Wenn er seit den frühen neunziger Jahren keine Persönlichkeitsveränderung durchgemacht hat, dann, so dachte ich, ist es gut möglich, dass da etwas dran ist oder dass er das Problem vielleicht sogar vollständig gelöst hat.« Und das hatte Folgen, denn Kleiners berufliches Leben nahm damit eine plötzliche Wendung. Wie Anderson hatte auch er jahrelang über einen Aspekt der Geometrisierungsvermutung gearbeitet, allerdings mit einem ganz anderen Ansatz. Im Unterschied zu Anderson ging er noch nicht davon aus, dass sich seine Arbeit als fruchtlos erweisen würde. Ihm war klar, dass es »ein hochriskantes Projekt« 224 war, an dem er arbeitete, es ging um eine berühmte Vermutung und jederzeit konnte ein anderer vor ihm Erfolg haben. Aber sich unmittelbar vor seinem eigenen Vortrag anhören zu müssen, dass es mit seinem Projekt praktisch vorbei war, traf ihn völlig unvorbereitet. Von da an wird Kleiner die nächsten anderthalb Jahre am Projekt Perelman arbeiten.
Perelman selbst bereitete sich inzwischen auf seine Reise in die Vereinigten Staaten vor. Er hatte Einladungen von Anderson nach Stony Brook und von Tian bekommen, der mittlerweise am MIT war. Er entschied, an beiden Orten jeweils zwei Wochen zu bleiben. Er werde sich, so schrieb er Anderson gleich, nicht länger als einen Monat in den USA aufhalten, weil er seine Mutter nicht länger allein lassen könne. 1 Später entschloss er sich, sie mitzunehmen, hielt aber an seinem ursprünglichen Zeitplan fest.
Wie es aussah, hatte sich Perelman mit der Welt nun wieder völlig arrangiert. Er erledigte die Visaformalitäten für die Einreise in die USA – eine ziemliche Last selbst für Leute, die den Umgang mit Bürokratien gewohnt sind – ganz allein und besorgte Visa für sich und seine Mutter. 2 Er kaufte die Tickets selbst und bezahlte sie anscheinend von seinem amerikanischen Bankkonto. Er hatte in den vergangenen sieben Jahren bescheiden gelebt, und zwar von den Ersparnissen aus seinen Forschungsstipendien – was er sogar in einer Fußnote seines ersten Artikels erwähnt, 3 getreu seinem Ideal, Anerkennung zum Ausdruck zu bringen, wenn sie fällig ist, gleichgültig, ob sie unmittelbar etwas zur Sache tut oder nicht. Er korrespondierte mit Anderson und Tian über Zeitplan und Logistik seiner Rei 225 sen, auch wegen einer Krankenversicherung, die ihm wohl besonders am Herzen lag.
Perelman tauchte also aus seinem Einsiedlerdasein wieder auf, war aber augenscheinlich dennoch dazu in der Lage, weiter an seinem Beweis zu schreiben. Am 10 . März 2003 , um die Zeit, in der er sich um die Einreisevisa kümmerte, lud er den zweiten Teil seiner Abhandlung auf arXiv hoch. 4 Mit zweiundzwanzig Seiten war der Text acht Seiten kürzer als der erste Teil. Offenbar hatte er den Beweis in seinem Kopf so klar formuliert, dass er sich diesen konzentrierten Textfassungen trotz zwischenzeitlicher kleinerer oder größerer Ablenkungen immer mal wieder für ein paar Wochen widmen konnte. (In diesem Frühjahr erzählte er Jeff Cheeger, er habe drei Wochen gebraucht, um den ersten Teil des Artikels zu schreiben – Cheeger brauchte mehr Zeit, um ihn zu lesen und zu verstehen.)
Anfang April 2003 traf Perelman am MIT ein. Für Gang Tian sah er mehr oder weniger so aus, wie er ihn in Erinnerung hatte: schlank, langhaarig und mit langen Fingernägeln, allerdings ohne das braune Kordsakko. Menschen, die ihn zum ersten Mal zu Gesicht bekamen, fanden ihn zwar auffällig, aber vollkommen im Rahmen dessen, was unter Mathematikern an Seltsamkeiten toleriert wird. Der Saal war brechend voll, als er seinen Vortrag hielt. Einige Zuhörer hatten den ersten Artikel gelesen und sich Notizen dazu gemacht, andere hatten sich in einem Seminar Tians damit beschäftigt. Die Mehrzahl aber waren neugierige Mathematiker, die gekommen waren, um den Mann zu sehen, dem möglicherweise der größte mathematische Durchbruch der letzten hundert Jahre gelungen 226 war. Sie waren kompetent genug, um seinem Vortrag in seinen Grundzügen zu folgen, aber sie waren sicher nicht in der Lage, nach dem Vortrag qualifizierte Fragen zu stellen – weshalb sie für Perelman bestenfalls uninteressant, schlimmstenfalls lästig waren. Er hatte sich Videoaufnahmen während des Vortrags verbeten und klar gesagt, er wolle keine Medienöffentlichkeit, aber ein paar Journalisten schafften es an diesem Tag
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