Der Bilderwächter (German Edition)
Menge Außentermine und einer muss doch die Stellung halten.«
» Irgendetwas Besonderes?«, fragte Emilia und ließ sich zögernd wieder auf ihrem Stuhl nieder.
» Wir haben vor ein paar Tagen eine trächtige Katze bekommen. Sie kann jederzeit werfen.«
Mehr brauchte sie nicht zu erklären. Die Schwestern liebten Tiere über alles und die Bedürfnisse der Heimbewohner gingen immer vor. Es gab für sie nichts Wichtigeres.
Abgesehen von der Kunst.
Draußen schlang Merle sich den Schal um den Hals und lauschte einen Augenblick in die Stille, die sie hier oben jedes Mal aufs Neue überraschte. Diese Stille war so dicht, dass es sich anfühlte, als hätte man Watte in den Ohren. Merle hörte ihr Blut rauschen.
Vereinzelte Schneeflocken schwebten vom Himmel herab.
Als Merle zu ihrem Fahrrad ging, fiel ihr Blick auf das Gebäude, das, ein Stück abseits, im Schutz hoher Kiefern lag.
Rubens Haus, wie die Schwestern es nannten.
Erstaunt blieb sie stehen.
In den Fenstern brannte Licht.
Das war noch nie vorgekommen.
Fröstelnd setzte sie die Mütze auf und streifte die Handschuhe über. Auf einmal war ihr furchtbar kalt, und sie sehnte sich danach, ins warme Büro zu kommen.
*
Ich konnte es noch gar nicht fassen, dass ich tatsächlich mit meinem Studium angefangen hatte. Alles war noch so neu. An alles musste ich mich erst gewöhnen.
Dass ich Psychologie studieren würde, war meinem Unterbewusstsein offenbar schon eine ganze Weile klar gewesen. Die Entscheidung war mir leichtgefallen, und ich hatte noch keine Sekunde daran gezweifelt, dass ich das richtige Studienfach gewählt hatte.
» Wenn ich dir helfen kann, sag Bescheid«, hatte Tilo mir angeboten. » Obwohl«, er hatte mich in seiner unnachahmlichen, jungenhaften Art angelächelt, » obwohl ich natürlich weiß, dass du den Ehrgeiz hast, alles allein zu schaffen.«
Da kannte er mich bereits ziemlich gut.
Ich hatte ihn längst ins Herz geschlossen. In den vergangenen Jahren war er mehr für mich da gewesen als mein eigener Vater, der vollauf mit seiner Arbeit und seiner neuen Familie beschäftigt war und allem Anschein nach glaubte, ich brauchte ihn nicht mehr.
» Selbstverständlich steht dir auch meine Bibliothek zur Verfügung. Sag mir nur, was du brauchst. Ich gebe es dir dann.«
Tilo hatte seine eigene Wohnung behalten, obwohl er sie nur noch als Aufbewahrungsort für seine Bücher und Möbel benutzte. Inzwischen war er in die alte Mühle eingezogen und lebte mit meiner Mutter zusammen. Sofern sie sich nicht gerade auf Lesereise befand, wie zurzeit, oder er auf einer seiner Vortragsreisen.
Seit er Mina therapierte, hatten sich die Einladungen zu Tagungen und Kongressen gehäuft, auf denen er über dissoziative Identitätsstörung referierte, besser bekannt als multiple Persönlichkeitsstörung.
Mina hatte ihm erlaubt, über ihre Therapie zu schreiben, und seine Artikel in diversen Fachzeitschriften hatten Aufsehen erregt und taten es immer noch. Aus dem ganzen Land meldeten sich Multiple, die ihn um Hilfe baten.
Doch Tilo verwies sie an andere Therapeuten. Er hatte sich vorgenommen, sich ganz auf Mina zu konzentrieren.
» Es geht mir nicht darum, Lorbeeren auf diesem Gebiet zu sammeln«, erklärte er. » Ich möchte einfach Mina helfen. Wenn ich jetzt anfange, mich ausschließlich um Multiple zu kümmern, muss ich sämtliche anderen Bereiche vernachlässigen.«
Tilo war Psychologe mit Haut und Haar.
Seine Patienten waren mehr für ihn als Akten, die er in Schränken verwahrte. Mehr als Krankheitsbilder, die er wie unterm Mikroskop betrachtete. Das hatte er in Minas Fall eindrücklich bewiesen. Nach dem gewaltsamen Tod ihres Vaters hatte er Kopf und Kragen riskiert, um sie vor einem übereilten Zugriff der Polizei zu schützen und die Wahrheit ans Licht zu bringen.
Meine Mutter vermutete nach wie vor, Tilo habe mich zu meinem Studium inspiriert. Ich ließ sie in dem Glauben, denn das war besser, als ihren Argwohn zu wecken.
Doch irgendwann würde ich Farbe bekennen müssen. Ich überlegte nämlich bereits, Hauptkommissar Bert Melzig aufzusuchen und ihn zu fragen, ob er mir ein Praktikum bei der Polizei in Köln beschaffen konnte. Spätestens dann würde ich meiner Mutter gestehen müssen, dass ich Polizeipsychologin werden wollte.
Sie hatte immer noch etwas von einer Glucke.
Kein Wunder nach allem, was sie mit mir erlebt hatte.
Auch der Kommissar neigte dazu, mich beschützen zu wollen. Was ganz einfach daran lag, dass er es schon
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