Der Bilderwächter (German Edition)
vierzig Rettungskräfte gezählt. Polizei, Feuerwehr, Sanitäter und Ärzte hatten ihre Arbeit getan und die Autobahn in eine Szene aus einem Horrorfilm verwandelt.
Eine Frau saß unter sichtbarem Schock auf einer Trage, den Kopf mit einem Verband umwickelt, die Hände kraftlos im Schoß. Ein kleiner Junge kauerte weinend in einem offenen Notarztwagen, eine zerknautschte Decke im Arm. Ein Feuerwehrmann telefonierte. Sein Gesicht war grau und wie aus Stein.
Was Mike jedoch am meisten traf, war ein aufgeklapptes Bilderbuch, das einsam im schmutzigen Schnee lag.
Nach drei Stunden konnte er schließlich in Ilkas Straße einparken und den Motor abstellen. Er atmete ein paar Mal tief durch und stieg aus.
Ilka wartete schon auf ihn. Er hatte sie von unterwegs angerufen, damit sie sich keine Sorgen machte. Froh, endlich bei ihr zu sein, nahm er sie in die Arme und drückte sie fest an sich.
» Magst du einen Tee?«, fragte sie ihn, nachdem sie sich voneinander gelöst hatten.
Sie wirkte nervös und angespannt, und Mike erinnerte sich daran, dass sie mit ihm reden wollte. Über der Freude, sie wiederzusehen, hatte er es ganz vergessen.
» Gerne.« Er zog seine Jacke aus und hängte sie an die Garderobe bei der Tür. Er selbst hatte sie restauriert. Sie war ein Schnäppchen aus einer Wohnungsauflösung gewesen und Ilka hatte sich auf den ersten Blick in sie verliebt.
Die Garderobe war das einzige Möbelstück, das Ilka gehörte. Das Zimmer war vollständig vom Vermieter eingerichtet worden, recht geschmackvoll, wie Mike fand. Helle Kiefernmöbel, bunte Kissen. Das Schlafsofa leuchtete in einem warmen Ockerton und erinnerte ihn an heiße, trockene Sommertage. Fast fühlte er die Sonne auf der Haut und den Staub unter den Füßen.
» Lass uns nach Italien fahren irgendwann«, sagte er.
Doch Ilka schien ihn nicht zu hören. Sie hatte den Wasserkocher eingeschaltet und nahm nun zwei Becher aus dem Hängeschrank über der Spüle.
Mike hätte ihr ewig zusehen mögen. Er liebte ihre sparsamen, konzentrierten Bewegungen. Wie sie die Arme hob, um an das Geschirr zu gelangen. Wie sie die Teebeutel aus der Verpackung zog. Und ihr wunderschönes rotes Haar hinter die Ohren strich, damit es ihr nicht ins Gesicht fiel.
Es reichte ihr inzwischen wieder bis zu den Schultern und verdeckte allmählich den Schmerz, an den jeder Blick in den Spiegel sie beinah zwei Jahre lang erinnert hatte.
Doch er war immer noch da, lag geduldig auf der Lauer. Mike erkannte es an Ilkas Augen, die, selbst wenn sie lachte, seltsam traurig blieben.
Ruben hatte ihr jede Lebensfreude genommen.
Sein Tod hatte ihr den Rest gegeben.
Mikes Hände ballten sich unwillkürlich zu Fäusten. Er hatte das Bedürfnis, diesen Scheißkerl zusammenzuschlagen, damit er begriff, was er seiner Schwester angetan hatte.
Betroffen starrte er auf seine Hände und versuchte, sie zu entspannen.
Was ging da in seinem Kopf vor? Wie konnte er einem Toten gegenüber Rachegelüste empfinden?
Und doch war es so.
Er war nicht der Mensch, der andern mit Ablehnung begegnete. Ruben jedoch hasste er aus tiefster Seele.
» Es geht um Ruben«, sagte Ilka da.
Mike zuckte zusammen. Er hob den Blick und richtete ihn auf Ilkas Rücken. Spürte, wie ihm der Atem stockte.
Ruben war tot!
» Ich habe einen Brief bekommen«, sagte Ilka mit so leiser Stimme, dass Mike Mühe hatte, sie zu verstehen.
Sie drehte sich um und trug die Becher zum Couchtisch, auf dem eine klatschmohnrote Decke lag, die ihn nur zu einem Viertel bedeckte.
Mike bemerkte jetzt, dass neue Bilder an den Wänden hingen. Ein einziger Farbenrausch. Ilka schien wie besessen zu malen.
In den Bildern konnte man ihre kraftvolle Seite erkennen. Den Teil von ihr, der das Leben liebte und genoss. Der die Welt mit neugierigen Augen betrachtete. Der sinnlich war und weich.
Mike spürte, wie ihn wieder das Gefühl von Ohnmacht überkam, das seit damals zu ihm gehörte. Das ihn niemals verließ, sich in ihm eingenistet hatte, bereit, jederzeit die Kontrolle zu übernehmen und ihn zu quälen.
Er musste daran denken, wie oft Ilka vor ihm zurückzuckte.
Wie sie sich unter seinen Händen in Eis verwandelte.
Hörte ihr leises Schluchzen, wie er es häufig hören musste, wenn sie glaubte, er sei eingeschlafen.
Schmeckte ihre Tränen.
» Ruben ist tot«, sagte er mit krächzender Stimme.
» Nein«, antwortete Ilka leise. » Mein Bruder lebt.«
*
Der Typ war jetzt schon eine ganze Weile bei Ilka. Oder kam ihm das bloß so
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