Der blaue Express
fort: «Es war eine ganz merkwürdige Geschichte damals. Ihr Vater, Mademoiselle, weiß bis heute nicht, was wirklich geschehen ist.»
«Nein?»
«Als er mich nach Details, nach Erklärungen gefragt hat, habe ich ihm gesagt: ‹Ohne Skandal habe ich Ihnen zurückgebracht, was verloren war. Sie dürfen keine Fragen stellen.› Wissen Sie, Mademoiselle, warum ich das gesagt habe?»
«Ich habe keine Ahnung», sagte das Mädchen kalt.
«Weil ich eine Schwäche für die blasse, schmächtige, ernste, kleine pensionnaire hatte.»
«Ich weiß nicht, wovon Sie reden», rief Zia ärgerlich.
«Wirklich nicht, Mademoiselle? Haben Sie Antonio Pirezzio vergessen?» Er hörte, wie sie schnell einatmete – es war beinahe ein Ächzen.
«Er hat als Gehilfe im Laden gearbeitet, aber so konnte er nicht das bekommen, was er haben wollte. Ein Gehilfe darf doch die Augen zur Tochter seines Meisters erheben, nicht wahr? Wenn er jung und hübsch ist und eine glatte Zunge hat. Und da die beiden nicht ununterbrochen turteln können, muss man gelegentlich auch von Dingen reden, die beide interessieren – etwa über diese sehr interessante Sache, die zeitweilig im Besitz von Monsieur Papopoulos war. Und da, wie Sie sagen, Mademoiselle, junge Mädchen dumme Gänse und leichtgläubig sind, war es ganz leicht, ihm zu glauben und ihm einen Blick auf dieses besondere Ding zu gönnen, ihm zu zeigen, wo es aufbewahrt wird. Und später, wenn es verschwunden ist – wenn die unglaubliche Katastrophe geschehen ist… Hélas, die arme kleine pensionnaire. In was für einer furchtbaren Lage sie ist. Sie hat Angst, die arme Kleine. Reden oder nicht reden? Und dann kommt dieser treffliche Bursche daher, Hercule Poirot. Es muss beinahe ein Wunder gewesen sein, wie alles wieder in Ordnung kommt. Die unbezahlbaren Erbstücke sind wieder da, und es gibt keine peinlichen Fragen.»
Zia sagte heftig:
«Sie haben es die ganze Zeit gewusst? Wer hat es Ihnen gesagt? War es – war es Antonio?»
Poirot schüttelte den Kopf.
«Niemand hat es mir verraten», sagte er ruhig. «Ich habe es erraten. Ich habe gut geraten, wie? Wenn man kein Talent zum Rätselraten besitzt, hat man als Detektiv wenig Aussicht auf Erfolg.»
Zia ging einige Minuten schweigend neben ihm her. Dann sagte sie mit harter Stimme:
«Also, was wollen Sie daraus machen? Wollen Sie es meinem Vater erzählen?»
«Nein», sagte Poirot scharf. «Ganz sicher nicht.»
Sie sah ihn neugierig an.
«Sie wollen etwas von mir?»
«Ich will Ihre Hilfe, Mademoiselle.»
«Wieso meinen Sie, ich könnte Ihnen helfen?»
«Ich weiß es nicht. Ich hoffe es nur.»
«Und wenn ich Ihnen nicht helfe, dann – erzählen Sie es meinem Vater?»
«Aber nein, aber nein! Schlagen Sie sich das aus dem Kopf, Mademoiselle. Ich bin kein Erpresser. Ich werde Sie doch nicht mit Ihrem Geheimnis bedrohen.»
«Wenn ich mich weigere, Ihnen zu helfen…», begann Zia langsam.
«Dann weigern Sie sich, das ist alles.»
«Warum…» Sie hielt inne.
«Ich will es Ihnen sagen. Frauen, Mademoiselle, sind großherzig. Wenn sie jemandem, der ihnen einmal einen Dienst erwiesen hat, einen Gegendienst erweisen können, dann tun sie es. Ich war Ihnen gegenüber einmal großmütig, Mademoiselle. Als ich hätte sprechen können, habe ich den Mund gehalten.»
Wieder trat Schweigen ein. Dann sagte Zia: «Mein Vater hat Ihnen dieser Tage einen Tipp gegeben.»
«Das war sehr freundlich von ihm.»
«Ich glaube nicht», sagte Zia langsam, «dass ich dem viel hinzufügen kann.»
Wenn Poirot enttäuscht war, so zeigte er es nicht. In seinem Gesicht bewegte sich kein Muskel.
«Eh bien!», sagte er fröhlich, «dann reden wir von etwas anderem.»
Er fuhr fort, vergnügt zu plaudern. Zia hingegen war distraite, ihre Antworten waren mechanisch und nicht immer treffend. Als sie sich wieder dem Casino näherten, schien sie einen Entschluss zu fassen.
«Monsieur Poirot?»
«Ja, Mademoiselle?»
«Ich – ich würde Ihnen gern helfen, wenn ich könnte.»
«Sie sind sehr liebenswürdig, Mademoiselle – sehr liebenswürdig.»
Wieder trat eine Pause ein. Poirot drang nicht in sie. Er gab sich damit zufrieden, zu warten und ihr Zeit zu lassen.
«Ah bah», sagte Zia, «warum soll ich es Ihnen eigentlich nicht sagen? Mein Vater ist vorsichtig – immer vorsichtig bei allem, was er sagt. Aber ich weiß, dass das Ihnen gegenüber nicht nötig ist. Sie haben uns gesagt, dass Sie nur auf der Suche nach dem Mörder sind und nicht nach dem
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