Der blaue Mond
Honor, kratzt sich den Arm und blickt zwischen Stacia und mir hin und her, ehe sie zum hundertsten Mal ihr Handy checkt, um zu sehen, ob Craig auf ihre SMS geantwortet hat.
Doch Stacia rührt sich nicht vom Fleck. Sie genießt die Situation viel zu sehr, um so ohne Weiteres aufzugeben. »Oh, sie hört mich sehr gut«, sagt sie, während ein Lächeln ihre Lippen umspielt. »Lass dich von dem iPod und den Ohrstöpseln nicht täuschen. Sie kann alles hören, was wir sagen, und alles, was wir denken. Denn Ever ist nicht nur ein Freak, sie ist eine Hexe.«
Ich wende mich ab und gehe zur anderen Seite des Ladens, wo ich einen Ständer mit Push-up-BHs und Korsetts durchstöbere und mir dabei selbst gut zurede. Ignorier sie, ignorier sie, konzentrier dich einfach aufs Einkaufen, dann verschwindet sie schon.
Doch Stacia verschwindet nicht. Stattdessen packt sie mich am Arm, zieht mich zu sich her und sagt: »Komm schon, nicht so schüchtern. Zeig's ihr. Zeig Honor, was für ein Freak du bist!«
Sie starrt mir direkt in die Augen und sendet eine Flut von verstörender dunkler Energie mitten durch mich hindurch, während sie meinen Arm so fest drückt, dass sich ihr Daumen und ihr Zeigefinger praktisch treffen. Ich weiß genau, dass sie mich ködern, mich provozieren will, da sie genau weiß, wozu ich fähig bin, nach diesem einen Mal, als ich auf dem Flur in der Schule die Kontrolle verloren habe. Nur dass sie es damals nicht mit Absicht gemacht hat - sie hatte ja keine Ahnung, was für Kräfte ich besitze.
Honor wird es langsam ungemütlich, sie steht neben Stada und fängt an zu quengeln. »Komm schon, Stada. Gehen wir. Das ist doch lang-wei-lig.«
Stada ignoriert sie jedoch und umklammert meinen Arm noch fester. Ihre Nägel bohren sich in mein Fleisch. »Na los, sag's ihr«, zischt sie. »Sag ihr, was du siehst.«
Ich schließe die Augen, während mein Magen Purzelbäume schlägt und sich mein Kopf mit Bildern füllt, die denen von damals ähneln: Stada, wie sie sich mit Krallen und Klauen den Weg an die Spitze der Beliebtheitspyramide erkämpft und all jene unter ihr wesentlich härter als nötig tritt. Einschließlich Honor, vor allem Honor, die solche Angst davor hat, unbeliebt zu sein, dass sie sich nicht wehrt.
Ich könnte ihr sagen, was für eine schreckliche Freundin Stada wirklich ist, sie als die schreckliche Person bloßstellen, die sie in Wahrheit ist. Ich könnte Stacias Hand von meinem Arm lösen und sie mit solcher Wucht quer durch den Raum schleudern, dass sie mitten durch das Glasfenster fliegt und schließlich draußen gegen die Wegweisertafel der Mall prallt.
Aber ich kann nicht. Dass ich letztes Mal in der Schule die Beherrschung verloren und Stada all die schrecklichen Dinge an den Kopf geworfen habe, die ich über sie weiß, war ein kolossaler Fehler, und ich kann es mir nicht leisten, ihn noch einmal zu machen. Es gibt jetzt so viel mehr zu verbergen, es stehen wesentlich größere Geheimnisse auf dem Spiel - Geheimnisse, die nicht nur mir gehören, sondern auch Damen.
Stada lacht, als ich darum ringe, die Ruhe zu bewahren und nicht überzureagieren. Ich rufe mir selbst in Erinnerung, dass es zwar in Ordnung ist, schwach zu wirken, der Schwäche jedoch nachzugeben absolut nicht. Es ist absolut unerlässlich, normal zu erscheinen, ahnungslos und ihr die Illusion zu lassen, dass sie so viel stärker ist als ich.
Honor sieht auf die Uhr, verdreht die Augen und will nur noch weg. Und gerade als ich mich losmachen und Stacia dabei vielleicht ganz zufällig mit der Rückhand eine wischen will, sehe ich etwas so Schreckliches, etwas so Widerliches, dass ich bei meinem Versuch, mich zu befreien, einen ganzen Ständer mit Dessous zu Boden reiße.
BHs, Strings, Kleiderbügel und Stangen krachen allesamt in einem Riesenhaufen zu Boden.
Mit mir als Kirsche obendrauf.
»Oh, mein Gott!«, kreischt Stacia und klammert sich an Honor fest, während sie sich vor Lachen über mich ausschütten. »Was bist du nur für ein Freak!«, sagt sie und zückt blitzschnell ihr Handy, damit sie alles auf Video festhalten kann. Sie zoomt ganz nah heran und macht Großaufnahmen von mir, wie ich versuche, mich von einem roten Strumpfgürtel zu befreien, der sich um meinen Hals gewickelt hat. »Mach mal lieber schnell, und sieh zu, dass du das hier aufräumst! Du kennst doch die Regel - was du kaputt machst, musst du auch bezahlen!«
Mit wackligen Beinen stehe ich auf, während Stacia und Honor zur Tür eilen und eine
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