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Der blaue Mond

Der blaue Mond

Titel: Der blaue Mond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alyson Noël
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sind und sich lautstark darüber beklagen, dass sie wegen einer vierstündigen Verspätung erst jetzt einchecken können. Als ich mich vor das Paar mittleren Alters dränge, das eigentlich als Nächstes hätte drankommen sollen, schwillt das verdrossene Gemecker an.
    »Hat Damen Auguste schon eingecheckt?«, frage ich, während ich die Proteste hinter mir ignoriere. Ich klammere mich mit den Fingern am Tresen fest und versuche, meine Nervosität unter Kontrolle zu bringen.
    »Wie bitte, wer?« Die Empfangsdame sieht hastig das Paar hinter mir an und wirft ihnen einen Blick zu, der besagen soll - keine Sorge, mit dem durchgeknallten Herzchen bin ich gleich fertig!
    »Damen Auguste.« Ich spreche es langsam und deutlich aus, mit wesentlich mehr Geduld, als ich eigentlich habe.
    Sie sieht mich aus halb zugekniffenen Augen an, und ihre dünnen Lippen bewegen sich kaum, als sie mir antwortet. »Bedaure, aber das ist vertraulich.« Dann wirft sie sich den dunklen Pferdeschwanz in einer so endgültigen, so abweisenden Geste über die Schulter, dass es wie ein Schlusspunkt wirkt.
    Ich konzentriere mich auf ihre tief orangefarbene Aura und weiß, dass strenge Disziplin und Selbstbeherrschung die Tugenden sind, die sie am meisten schätzt - wobei ich einen eklatanten Mangel an beidem bewiesen habe, als ich mich gerade so rücksichtslos vorgedrängt habe. Da ich mich unbedingt gut mit ihr stellen muss, wenn ich mir auch nur die geringsten Hoffnungen auf die Informationen machen will, die ich brauche, unterdrücke ich den Drang, empfindlich und ungehalten zu reagieren, sondern erkläre ihr ganz ruhig, dass ich der andere Gast in dem Zimmer bin.
    Sie sieht erst mich an und dann das Paar hinter mir, ehe sie antwortet. »Es tut mir leid, aber Sie müssen warten, bis Sie an der Reihe sind. Genau. Wie. Alle. Anderen.«
    Ich weiß, dass mir weniger als zehn Sekunden bleiben, bis sie jemanden von der Security ruft.
    »Ich weiß.« Ich senke die Stimme und beuge mich zu ihr vor. »Und es tut mir wirklich leid. Aber ich muss einfach ...«
    Sie sieht mich an, und ihre Finger kriechen aufs Telefon zu, während ich ihre lange, gerade Nase, die dünnen, ungeschminkten Lippen und die minimale Schwellung direkt unter ihren Augen wahrnehme und augenblicklich in sie hineinsehe.
    Sie ist verlassen worden. Sie ist vor so kurzer Zeit verlassen worden, dass sie sich immer noch jeden Abend in den Schlaf weint. Tag für Tag muss sie von früh bis spät an das schreckliche Ereignis denken - die Szene verfolgt sie auf Schritt und Tritt, vom Aufwachen bis zum Einschlafen.
    »Ich muss einfach wissen ...« Ich halte inne und tue so, als wäre es zu schmerzhaft, die Worte tatsächlich auszusprechen, obwohl ich in Wirklichkeit noch gar nicht entschieden habe, welche Worte ich benutzen will. Dann schüttele ich den Kopf und fange noch mal von vorne an, da es immer günstiger ist, möglichst nahe an der Wahrheit zu bleiben, wenn man eine Lüge glaubwürdig rüberbringen will. »Er ist nicht zum vereinbarten Treffpunkt gekommen, und deshalb ... na ja. Deshalb weiß ich nicht, ob er überhaupt noch auftaucht.« Ich schlucke schwer und zucke zusammen, als ich merke, dass die Tränen in meinen Augen echt sind.
    Doch als ich sie wieder ansehe und bemerke, wie sich ihre Züge erweichen - der verkniffene, strenge Mund, die schmalen, blinzelnden Augen, das hochgereckte Kinn -, alles durch Mitgefühl, Solidarität und Einigkeit schlagartig verwandelt, weiß ich, dass es funktioniert hat. Wir sind jetzt wie Schwestern, loyale Angehörige eines rein weiblichen Stammes, die in jüngster Zeit von Männern sitzen gelassen worden sind.
    Ich verfolge, wie sie ein paar Befehle in ihre Tastatur eintippt, und stimme mich ganz auf ihre Energie ein, damit ich sehen kann, was sie sieht - die Buchstaben auf dem Bildschirm, die vor mir aufblinken, zeigen mir, dass unser Zimmer, Suite 309, nach wie vor unbewohnt ist.
    »Bestimmt hat er sich nur verspätet«, sagt sie, auch wenn sie nicht daran glaubt. In ihren Augen sind alle Männer Schweine, davon ist sie fest überzeugt. »Aber wenn Sie mir einen Ausweis zeigen und beweisen können, dass Sie Sie sind, könnte ich ...«
    Doch noch ehe sie zu Ende gesprochen hat, bin ich schon weg, habe mich von ihrem Tresen abgewandt und renne nach draußen. Ich brauche keinen Schlüssel. Ich könnte nie in dieses traurige, leere Zimmer einchecken und auf einen Freund warten, der garantiert nicht kommt. Ich muss weiterfahren, weitersuchen. Ich muss

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