Der blaue Stern
kämpfen. Und Rabben hatte bisher keinen Grund gesehen, es schon vorher zu tun.
Vorsicht war vonnöten. Lythande wußte, daß Rabben nahe war.
Südöstlich des Statthalterpalasts an der Tempelallee befand sich ein kleiner dreieckiger Park. Tagsüber wandelten dort Prediger und Priester, denen es an Opfergaben und Andächtigen gebrach, über die Kieswege und die Anlagen; des Nachts fand man dort Frauen, die keine Göttin anbeten außer der des vollen Beutels und leeren Schoßes. Aus beiden Gründen nannte man diesen Park voller Ironie »Himmlisches Versprechen«. In Freistatt, wie anderswo, wußte man sehr wohl, daß Versprechen nicht immer gehalten werden.
Lythande kümmerte sich gewöhnlich weder um Frauen noch um Priester und kam nicht oft dorthin. Der Park schien verlassen zu sein. Ein böser Wind war aufgekommen, er peitschte Büsche und Sträucher, daß sie wie fremdartige Tiere in widernatürlichen Stellungen aussahen, und ächzte gespenstisch um Wände und Giebel der Tempel auf der anderen Straßenseite. Von diesem Wind sagte man in Freistatt, er sei das Stöhnen Azyunas in Vashankas Bett. Lythande ging schnell und mied die Dunkelheit der Pfade. Da zerriß der Schrei einer Frau die Luft.
Aus den Schatten sah der Magier die zerbrechliche Figur eines jungen Mädchens in zerrissenem Gewand. Sie war barfuß, und ihr Ohr blutete, wo ein Ring aus dem Läppchen gerissen war. Sie wehrte sich gegen den unerbittlichen Griff eines stämmigen, schwarzen Mannes. Das erste, was Lythande auffiel, war die Hand um das schmale, knochige Handgelenk des Mädchens, an dem sie es mit sich zerrte. Zwei Finger fehlten ganz und ein dritter bis zum unteren Glied. Erst dann - als es bereits nicht mehr nötig war - sah der Magier den blauen Stern zwischen den buschigen schwarzen Brauen und die katzengelben Augen Rabben Halbhands.
Lythande kannte ihn von früher, aus dem Tempel des Sterns. Schon damals war Rabben ein tückischer Mann und für seine Lasterhaftigkeit verrufen gewesen. Warum, fragte sich Lythande, hatten die Meister nicht verlangt, daß er als Preis für die Macht seine Laster aufgebe? Lythandes Lippen verzogen sich zu einem freudlosen Grinsen. So berüchtigt war Rabbens Geilheit, daß jeder das Geheimnis seiner Macht kennen würde, wenn er seine Ausschweifungen aufgegeben hätte.
Die Kräfte eines Adepten des Blauen Sterns beruhten auf einem Geheimnis. So, wie in einer alten Sage ein Riese sein Herz in einem Versteck außerhalb seines Körpers aufbewahrte und damit seine Unsterblichkeit sicherte, gab ein Adept des Blauen Sterns all seine psychische Kraft in ein Geheimnis. Entdeckte jemand dieses Geheimnis, ging alle Macht des Adepten auf ihn über. Also mußte Rabbens Geheimnis etwas anderes sein ... Aber Lythande dachte nicht mehr weiter darüber nach.
Das Mädchen schrie mitleiderregend, als Rabben heftig an ihrem Handgelenk riß. Als der Stern des stämmigen Magiers zu glühen begann, warf sie hastig die freie Hand vor die Augen, um sie abzuschirmen. Obgleich Lythande sich eigentlich gar nicht hatte einmischen wollen, trat er aus dem Schatten, und die klare Stimme, deretwegen die Zauberlehrlinge im äußeren Hof des Blauen Sterns Lythande »Minnesänger« statt »Magier« genannt hatten, erschallte: »Bei Shipri Allmutter, laß diese Frau los!«
Rabben wirbelte herum. »Bei den neunhundertneunundneunzig Augen Ils'! Lythande!«
»Gibt es nicht genug Frauen auf der Straße der Roten Laterne, daß du Mädchen, die noch halbe Kinder sind, in der Tempelallee mißhandeln mußt?« Lythande hatte beim Näherkommen gesehen, wie jung Rabbens Opfer war: die dünnen Arme und noch kindlichen Beine und Fußgelenke, den bei weitem noch nicht vollentwickelten Busen unter dem schmutzigen, zerrissenen Kleid.
Rabben wandte sich Lythande zu und höhnte: »Du warst immer zimperlich, Shyryu. Keine Frau kommt in diesen Park, wenn sie nicht käuflich ist. Willst du die Dirne für dich? Bist du deiner fetten Hausmutter aus dem Aphrodisia müde?«
»Du wirst ihren Namen nicht in den Mund nehmen, Shyryu!«
»So empfindlich der Ehre einer Hure wegen?«
Lythande ging nicht darauf ein. »Laß das Mädchen gehen oder stell dich mir!«
Rabbens Stern schleuderte Blitze. Er stieß das Mädchen zur Seite. Es fiel schlaff auf den Boden und blieb reglos liegen. »Sie wird dort bleiben, bis wir miteinander fertig sind. Hast du dir vielleicht eingebildet, sie könnte fortlaufen, während wir kämpfen? Wenn ich so recht überlege, ich habe dich
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