Der blaue Stern
vielleicht, weil er die Unsicherheit in ihrer Stimme bemerkt hatte.
»Du kannst es dir nicht leisten, es nicht zu tun«, erwiderte er. »Wenn du deinem Kind das nicht gibst, wird es sterben. Und je länger du zögerst, desto näher kommt sie dem Tod. Jeder Augenblick zählt.«
Masha nahm den Umschlag und ging zum Wasserkrug zurück. Sie legte den Löffel nieder, ohne den Inhalt zu verschütten, und begann nach Smhees Anweisungen zu arbeiten. Er blieb bei Kheem, eine Hand hatte er auf ihre Stirn gelegt, die andere auf die Brust. Sie atmete rasch und flach.
Wallu protestierte. Masha wies sie an, den Mund zu halten, schärfer, als sie es eigentlich wollte. Wallu biß sich auf die Lippen und beobachtete Smhee.
Smhee richtete Kheems Oberkörper auf und hielt sie, als Masha ihr die grünliche Flüssigkeit einflößte. Schon etwa zehn Minuten später begann das Fieber zu sinken. Nachdem der Sand einmal durch das Stundenglas gerieselt war, bekam sie einen weiteren Löffel voll. Bei Sonnenaufgang schien das Fieber aus ihrem Körper gewichen zu sein und sie schlief friedlich.
Während sie Krankenwache hielten, sprachen Masha und Smhee leise miteinander. Wallu war kurz vor Sonnenaufgang zu Bett gegangen, schlief aber noch nicht. Eevroen war nicht erschienen. Wahrscheinlich schlief er in einem leeren Kahn im Hafen oder in einem Torweg seinen Rausch aus. Masha war froh darüber. Sie hatte sich schon darauf vorbereitet, ihm einen weiteren Krug über den Schädel hauen zu müssen, für den Fall, daß er sich aufregen und die kleine Kheem wecken sollte.
Sie hatte den kleinen fetten Mann schon einige Male gesehen, wußte aber nicht viel über ihn. Auch sonst kannte keiner ihn näher. Er war vor sechs Wochen (sechzig Tagen) nach Freistatt gekommen. Ein Kauffahrer der Banmaltleute brachte ihn her, was aber über seine Herkunft wenig aussagte, denn das Schiff lief viele Länder und Inseln an.
Smhee hatte sich gleich ein Zimmer im ersten Stock über der »Khabeeber«- oder »Tauchervogel«-Schenke genommen. (Der Wirt hatte sein Gasthaus spaßeshalber so genannt, weil er der Meinung war, seine Gäste tauchten ebenso tief in den Alkohol, um ihr Ende zu finden, wie der Khabeeber im Ozean nach Fischen taucht.) Er arbeitete nicht, man wußte jedoch, daß er weder stahl, noch Leute ausraubte. Er schien genug Mittel zu besitzen für seine Zwecke, was immer diese auch waren, führte jedoch ein einfaches Leben. Weil er Körper und Haare mit ranziger Butter einschmierte, nannte man ihn heimlich den »Stinkenden Butterball« odei den »Alten Stinker«. Er besuchte alle Schenken und war auch oft im Basar und auf dem Markt anzutreffen. Soviel man von ihm wußte, zeigte er weder an Frauen, Männern, noch an Kindern sexuelles Interesse. Oder, wie ein Witzbold sagte: »Nicht einmal an Ziegen.«
Seine Religion kannte keiner, man munkelte aber, daß er in seinem Zimmer ein Idol in einem kleinen hölzernen Kästchen aufbewahrte.
Jetzt, als sie auf dem Boden neben Kheem saßen, und ihr jede halbe Stunde Wasser zu trinken gaben, stellte Masha ihm Fragen. Genau wie er ihr.
»Du bist mir gefolgt«, sagte Masha. »Warum?«
»Ich habe auch andere Frauen beobachtet.«
»Du hast mir noch nicht den Grund dafür genannt.«
»Immer der Reihe nach. Ich habe hier etwas zu erledigen, und ich brauche eine Frau, die nur dabei hilft. Sie muß schnell sein, stark, sehr mutig und intelligent - und verzweifelt.«
Er sah sich auf eine Art und Weise in dem Zimmer um, als müßte jemand, der hier lebte, in der Tat verzweifelt sein. »Ich kenne deine Geschichte«, sagte er. »Du stammst aus einer wohlhabenden Familie, und als Kind lebtest du im Ostviertel. Du bist nicht im Labyrinth zur Welt gekommen und dort aufgewachsen, und du willst hier raus. Du arbeitest hart, aber du kannst dir deine Träume nicht erfüllen. Nicht, bis dir etwas Unerwartetes über den Weg läuft, und du den Mut hast, danach zu greifen, was immer das für Folgen für dich haben mag.«
»Das hat doch etwas mit Benna und dem Edelstein zu tun, habe ich recht?«
»Ja.« Er zögerte.
»Und mit dem Purpurmagier.«
Sie holte tief Luft. Ihr Herz schlug schneller, was aber nicht an ihrer Müdigkeit lag. Kälte durchfuhr ihren Körper von den Zehen bis unter die Kopfhaut - eine nicht unangenehme Kälte.
»Ich habe, im Schatten verborgen, dein Haus beobachtet«, sagte er. »Viele Nächte. Und vor zwei Nächten sah ich die Raggah, wie sie sich in andere Schatten duckten, und dein Fenster ebenfalls
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