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Der blaue Tod

Der blaue Tod

Titel: Der blaue Tod
Autoren: Boris Meyn
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ihm gut. Die Fahrt mit der Droschke dauerte nur wenige Minuten; zu wenig für ein Gespräch, allein lange genug für unauffällige begehrliche Blicke. Den kurzen Weg vom Ferdinandstor hinauf zur Kunsthalle, die wie ein Tempel auf der ehemaligen Bastion Vincent über Alster und Vorstadt thronte, legten sie zu Fuß zurück, und Sören war froh, dass Fräulein Eschenbach den ihr angebotenen Arm mit einem Hinweis auf Sörens körperliche Verfassung ausgeschlagen hatte. So näherten sie sich betont langsamen Schrittes dem imposanten Gebäude aus rotem Backstein, das mit seinem prächtigen Bauschmuck aus Sandstein und Terrakotta an einen Palast der Renaissance erinnerte.
    «Ich muss zugeben», meinte seine Begleiterin, nachdem Sören zwei Billetts gelöst hatte, «dass ich bislang noch nicht die Zeit gefunden habe, in die Kunsthalle zu gehen, obwohl ich mich sehr für die bildenden Künste begeistern kann. Man sagt ja, ihr Direktor habe ein besonderes Auge auf die zeitgenössische Malerei. Das gefällt mir. Man tut sich doch im Allgemeinen sehr schwer mit zeitgenössischer Kunst. Das ist in der Musik nichtanders. Ich hoffe sehr, sein Engagement findet Zustimmung beim Publikum.»
    Sören wusste nicht, was er darauf hätte erwidern können. Er war ja selbst noch nie in der Kunsthalle gewesen, und seine Meinung über moderne Musikkompositionen behielt er in diesem Moment besser für sich. Er konnte nur hoffen, dass Martin ihr
zufälliges
Zusammentreffen nicht vergessen hatte.
    Sie deutete auf das prächtige Treppenhaus vor ihnen. «Man könnte meinen, man stünde in Stülers Neuem Museum in Berlin», sagte sie, und Sören nickte, auch wenn er das Berliner Museum nicht kannte. Zumindest wusste er, dass die Kunsthalle von zwei Berliner Architekten gebaut worden war.
    «Sie waren zuvor in Berlin?», fragte er.
    Sie nickte. «Vier Jahre lang. Im Herbst letzten Jahres bekam ich dann die Stelle hier in Hamburg. Es ist schon ein glücklicher Zufall, dass Mahler auch hier weilt. Er ist ein phantastischer Dirigent, einfühlsam und behutsam. Als Komponist vielleicht etwas melancholisch.»
    «Melancholie ist sehr treffend», entgegnete Sören. «Genau das empfand ich auch an dem Abend, als ich Ihr Violinspiel hörte.» Ihr Spiel hatte tatsächlich etwas in ihm berührt – ganz im Gegensatz zum eigentlichen Stück, das er als unruhiges und konfuses Getöse empfunden hatte.
    «Wir kommen gut miteinander aus», meinte sie. «Nur Pollini scheint leider von Mahlers Kompositionen nicht viel zu halten, was aber wohl mehr dadurch begründet ist, dass die Konzerte so schlecht besucht sind. Schade, dass das Hamburger Publikum so   … so konservativ ist.»
    Sören lächelte. «Das ist nicht allein bei der Musik so. In dieser Stadt hält man sehr an Traditionen fest. Aufden ersten Blick scheint es so gut wie unmöglich, je etwas verändern zu können.»
    «Diesen Eindruck habe ich auch. Ich bin zwar erst ein knappes Jahr in der Stadt, aber ich kann jetzt schon mit Sicherheit sagen, dass Pollini bloß eine Wagner-Oper anzukündigen braucht, um ein volles Haus zu haben. Es scheint geradezu, als kenne man in dieser Stadt nur Wagner. Wagner oder Barock. Steht Wagner auf dem Programm, dann stehen die Bürger Schlange. Leider hat das zur Folge, dass die Gesangssolisten von Pollini auch viel besser bezahlt werden als die Orchestermitglieder. Hätte ich eine schöne Stimme, dann müsste ich tagsüber wahrscheinlich nicht am Conservatorium unterrichten. Es gibt nichts Ermüdenderes, als unbegabten Kindern das Spielen eines Instrumentes zu vermitteln, für das sie nie das nötige Gespür entwickeln werden. – Aber ich langweile Sie mit meinen Geschichten   …»
    «Durchaus nicht. Sie haben völlig Recht. Solange es zum guten Ton bürgerlicher Weltanschauung gehört, dass zumindest die Töchter des Hauses ein Instrument zu spielen haben, obwohl man die künstlerischen Beschäftigungen in den meisten Fällen doch besser aufs Häkeln und Sticken hätte beschränken sollen, so lange hat Musik nur etwas mit Wohlerzogenheit und wenig mit Kunst zu tun.»
    «Richtig», bekräftigte Fräulein Eschenbach. «Andererseits: Gäbe es dieses Bedürfnis in den bürgerlichen Kreisen nicht, stünden wir Musiker noch ärmer da als ohnehin schon. Viele leben vom Unterricht.»
    «Wie sind Sie zu Ihrem Instrument gelangt?»
    «Genau so, obwohl mir mein Werdegang im Nachhinein wie ein Märchen vorkommt. Ich stamme aus einer Familie, die sich niemals einen Musiklehrer hätte
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