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Der blaue Tod

Der blaue Tod

Titel: Der blaue Tod
Autoren: Boris Meyn
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weggestorben.»
    «Das meinst du nicht im Ernst?»
    «Wie gesagt, es ist nur eine Vermutung. Ich besitze hier gar nicht die Ausstattung, den Erreger zu isolieren und den Nachweis zu erbringen. Ich bin nur ein einfacher Arzt   …»
    «Ein guter Arzt.»
    Hugo Simon ignorierte Sörens Worte, ging zu einem Regal und nahm ein größeres Glasgefäß herunter. «Ich streiche dir das Gelenk mit einer Arnikatinktur ein. Sollte die Schwellung nach zwei, drei Tagen nicht nachlassen, wirst du noch einmal vorbeikommen müssen.»
     
    Er strich mit einem Spatel eine dicke Paste auf den Fuß, die er vorsichtig mit dem Finger auf der geschwollenen Hautpartie verrieb. Dann nahm er ein langes Mullband und wickelte das Gelenk ein. «Nimm dir einen Stock und belaste das Bein möglichst wenig. Zu wenig Bewegung ist allerdings auch nicht von Vorteil. Wenn du dich setzt, versuche, das Bein hochzulagern. Aber was erzähle ich dir? Du kennst dich ja bestens aus. So, ich muss zu Wallichs und dann dringend ins Bett. Mir fallen die Augen zu.» Er reichte Sören einen Zettel. «Lass dir das in der Apotheke anrühren und reib das Gelenk zweimal täglich damit ein.» Er blickte Sören an. «Neues Leinen wirst du ja wohl im Hause haben. Ist noch was?»
    «Wie viel, Hugo?», fragte Sören.
    Hugo Simon lächelte ihn an. «Das verrechnen wir mit ein paar Flaschen Wein. Akzeptiert?»
    Sören nickte. «Ich will dir nicht deine kostbare Zeit stehlen, aber kannst du mir ein paar Auskünfte zur Behandlung von Kostkindern geben?»
    «Ein trauriges Kapitel», entgegnete der Arzt und wiegte den Kopf. «Wo drückt der Schuh?»
    «Ich bin auf der Suche nach einem Kostkind, das vor acht Jahren medizinisch versorgt worden ist. Der Name der Amme ist Inge Bartels. Mehr weiß ich nicht.»
    «Hier in Altona?»
    «Keine Ahnung», sagte Sören und steckte die Rezeptur in die Rocktasche. Dann schlüpfte er mit dem rechten Fuß in die Galosche.
    «Landammen gibt’s wie Sand am Meer», meinte der Mediziner. «Den Namen habe ich noch nie gehört. – Wenn das mal ihr richtiger Name ist.»
    «Aber du versorgst doch bestimmt einige von den Kostkindern?»
    Simon nickte. «Ganz arme Würmer. Ich werde immer erst dann gerufen, wenn’s gar nicht mehr anders geht. Die Ammen leben ja von der Beherbergung und wollen möglichst keine zusätzlichen Unkosten haben. Schwindsucht, Tuberkulose, Unterernährung   … Geschichten könnte ich dir erzählen   … Was glaubst du, wie viele der toten Kinder, die in der Gosse gefunden werden, den Leihmüttern die Arztkosten nicht wert waren?»
    Sören erhob sich, dankte dem Freund mit einem kräftigen Händedruck und verabschiedete sich. Die ganze Rückfahrt über schwirrten ihm unschöne Bilder vom Elend der unzähligen Kostkinder durch den Kopf. Vielleicht lebte das gesuchte Kind schon längst nicht mehr. Dann musste er an Hugo Simons Befürchtungen denken, seine letzten Patienten könnten an Cholera erkrankt sein. Wenn das wahr sein sollte, dann   … Der Fuß schmerzte indes schon bedeutend weniger.
     
    Mathilda Eschenbach sah umwerfend aus. Sie trug ein hellblaues tailliertes Kleid, das ihre mädchenhafte Figur besonders zur Geltung brachte. Schon am Abend des Konzerts war Sören ihre zierliche Statur aufgefallen. Heute erschien sie ihm noch feingliedriger. Ihre Hände und Finger waren so schmal, wie sie nur eine Violinistin haben konnte. Sie trug ihre Haare heute offen, und die hellbraunen Locken tanzten lustig auf ihren Schultern hin und her, wenn sie den Kopf bewegte. Ihre Stupsnase wurde von einer kleinen Ansammlung Sommersprossen eingerahmt. Sören bemerkte, dass ihre Augen bei Tageslicht noch intensiver leuchteten. Schon bei der ersten Begegnung war ihm die goldgelbe Farbe aufgefallen. Ihr Blick war voller Wärme. Zwischenzeitlich hatte er schon gemeint, er habe es sich nur eingebildet,aber jetzt, wo sie ihm gegenüberstand und in die Augen blickte, durchfuhr ihn wieder diese unsagbare Wärme in der Brust. Mathilda Eschenbach war etwa einen Kopf kleiner als Sören. Ihre Pupillen waren auffällig geweitet, als sie zu ihm aufblickte.
    Obwohl sich Sören alle Mühe gab, seine Behinderung, so gut es ging, zu verstecken, war es Fräulein Eschenbach natürlich nicht entgangen, dass er sein rechtes Bein nachzog. «Ein kleines Missgeschick», beteuerte er auf ihre Frage und biss die Zähne zusammen, als sie die Droschke bestiegen. Am liebsten hätte er seinen rechten Fuß in einen Bottich mit Eiswasser gestellt. Aber die Bewegung tat
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