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Der blaue Tod

Der blaue Tod

Titel: Der blaue Tod
Autoren: Boris Meyn
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nachgelassen,trotzdem war er dankbar, dass er die Fahrt über im rumpelnden Pferdewagen nicht zu stehen brauchte. Eine knappe Stunde Fahrzeit bis nach Altona musste man auch an einem Sonntagmorgen einplanen.
    Hugo Simon empfing Sören mit einem spöttischen Gruß. Das Erhebende am Arztberuf sei ja, dass man als Medicus nicht einmal am Sonntag von seinen Verpflichtungen entbunden sei. Zu ihm kämen am Wochenende fast noch mehr Hilfesuchende als wochentags – wohl wissend, dass Dr.   Simon niemanden vor der Tür stehen ließ. Dann griff er dem Freund unter die Schulter und führte ihn in sein kleines Behandlungszimmer.
    Sören hatte Hugo Simon vor etwa zwei Jahren bei einer Gerichtsverhandlung um ein Notzuchtverbrechen kennen gelernt, und sie hatten sich schnell angefreundet. Ein hoch angesehener, jedoch reichlich betagter Hamburger Medicus hatte wider Erwarten in einem Gutachten die Unberührtheit einer zuvor von zwei preußischen Offizieren vergewaltigten Obsthändlerin aus den Elbmarschen erklärt. Es kam selten genug vor, dass solche Verbrechen überhaupt zur Anklage gelangten, und Sören hatte seine Mandantin eindringlich vor der gesellschaftlichen Schmach, die auch sie als Opfer treffen würde, gewarnt. Aber die mutige Frau hatte darauf bestanden, und so hatte Sören ein weiteres Gutachten eines unabhängigen Mediziners eingefordert. Dr.   Hugo Simon hatte die junge Frau daraufhin untersucht, wobei der Tatbestand einer Notzucht eindeutig und zweifelsfrei nachgewiesen wurde.
    Was letztendlich aus den zwei adeligen Offizieren geworden war, entzog sich Sörens Kenntnis. Die Familien zahlten zur Rehabilitierung des Mädchens eine hübsche Summe, und das Verfahren wurde auf Antrag der Beschuldigtenselbst an die Militärgerichtsbarkeit weitergeleitet, wo sich die Ehrbarkeit wahrscheinlich mit einer entsprechenden Spende wiederherstellen ließ. Hugo Simon hatte aus seiner antipreußischen Gesinnung während des Verfahrens keinen Hehl gemacht. Sowohl dieser Umstand als auch die Tatsache, dass Simon gegen das auch unter Medizinern ungeschriebene Gesetz verstoßen hatte, dass eine Krähe der anderen niemals ein Auge auskratzt, hatten wohl bewirkt, dass Dr.   Simon nach dem Prozess die Mitgliedschaft im Hamburger Ärztlichen Verein verwehrt wurde. Nach eigener Aussage konnte er es verschmerzen, schließlich habe er im zu Preußen gehörigen Altona genug Patienten zu versorgen. Aber die Wirklichkeit, das wusste Sören, sah anders aus. Kein niedergelassener Arzt konnte es sich erlauben, auf die Klientel der benachbarten Großstadt zu verzichten. Zumal Hugo Simon, was sein soziales Engagement betraf, Sören nicht unähnlich war. Auch er behandelte Patienten aus der unteren Bevölkerungsschicht häufig ohne Honorar. Der Ruf eines Samariters eilte ihm dementsprechend vor allem in der Arbeiterklasse voraus. Satt wurde man davon nicht. Sören wollte die Gelegenheit beim Schopfe packen und den Arzt gleich auch über die Praxis bei der medizinischen Versorgung von Kostkindern ausfragen. Aber sein Fuß hatte natürlich Priorität – schließlich wollte er am Nachmittag mit Fräulein Eschenbach durch die Hamburger Kunsthalle schlendern.
    «Autsch!» Sören zog das Bein ruckartig zurück, als Hugo Simon den Strumpf über das Gelenk zog.
    «Entschuldige meine Unkonzentriertheit. Ich habe seit mehr als dreißig Stunden nicht geschlafen.» Der Arzt inspizierte das geschwollene Gelenk. «Gleich mehrereFälle von plötzlichem Brechdurchfall.» Vorsichtig bog er den Fuß in alle Richtungen. «Tut das weh?»
    Sören bejahte die Frage. «Üblich bei der Hitze, oder?»
    «Und in diese Richtung?» Hugo Simon bog den Fuß auf die Innenseite.
    «Aua! – Willst du mir den Fuß abbrechen?»
    «Stell dich nicht so an», raunzte der Arzt und drückte vorsichtig auf mehrere Partien der Schwellung. «Du hast Glück gehabt. Sehnen und Bänder sind intakt. – Was sagst du? Ob das üblich ist? Der Häufung nach zu urteilen liegt da was im Busch, wenn du mich fragst. Aus den Krankenhäusern hört man bislang nichts, aber gewöhnlicher Brechdurchfall ist das bestimmt nicht. Und Typhus-Symptome sehen anders aus. Ich muss dringend mit Sanitätsrat Wallichs sprechen. Sollte sich mein Verdacht bestätigen, dann   …»
    «Dann? Was meinst du?»
    «Ich möchte gar nicht daran denken.»
    «Woran?», fragte Sören.
    «Cholera», entgegnete der Arzt und sah plötzlich sehr erschöpft aus. «Einer ist mir innerhalb weniger Stunden unter den Händen
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