Der blaue Tod
ihm, da wäre er bei dir an der richtigen Adresse.»
«Es geht um das Bild eines Malers. Max Liebermann ist sein Name», erklärte Lichtwark und deutete auf das große Gemälde vor ihnen an der Wand. «Er hat dieses Werk geschaffen, das ich dank einer Schenkung vor zwei Jahren erwerben konnte. Es heißt ‹Die Netzflickerinnen›.»
Sören betrachtete das mannshohe und mehr als zwei Meter breite Gemälde, das von einem patinierten Goldrahmen eingefasst war. Vor ihm breitete sich bis zum Horizont eine Wiesenlandschaft aus, auf der mehrere Frauen vor ausgebreiteten Fischernetzen knieten oderhockten. Im Vordergrund schleppte ein lebensgroß dargestelltes, junges Fischermädchen ein weiteres, sichtbar schweres Netz heran. Über der Szenerie lag grauer, sturmbewegter Wolkenhimmel.
«Man hört förmlich, wie der Wind über das Feld pfeift», meldete sich Fräulein Eschenbach. «Ich mag diese großen Genrebilder. Sie wirken wie aus dem Leben gegriffen, dabei sind sie doch bestimmt nicht vor der Natur entstanden.»
«Sie haben Recht.» Lichtwark lächelte erfreut. «Liebermann hat viele Skizzen und Studien dazu angefertigt, bis er die endgültige Komposition auf die Leinwand brachte. Ich kenne einige davon.»
«Und doch wirkt es, als hätte sich die Szene genau so zugetragen. Am liebsten möchte man der jungen Frau im Vordergrund beim Tragen des schweren Netzes helfen. Nur die Gesichter der Frauen sind ihm etwas zu schön geraten. Es sind Arbeiterinnen, deren Kleidung ärmlicher, deren Gesichter von der Seeluft bestimmt zerfurcht und deren Hände spröde und rissig sein müssten.» Alle blickten auf Fräulein Eschenbach, die angesichts der Wirkung ihres kleinen Vortrags aufs zauberhafteste errötete.
«Sie sind nicht zufällig Malerin?», fragte Lichtwark erstaunt.
Sie lächelte bescheiden. «Nein, Musikerin – ich spiele Violine.»
«Der Wunsch nach mehr Realismus in der Malerei ist ungewöhnlich für eine so junge Dame», erklärte Lichtwark, und seine Lippen kräuselten sich amüsiert. «Aber tatsächlich haben Sie mit Ihrer Feststellung den Nagel auf den Kopf getroffen. Liebermann kann sehr wohl realistischer malen. Jedoch fehlt die Akzeptanz des Publikums.»Er breitete die Arme zu einer hilflosen Geste aus. «Ich tue schon mein Möglichstes, das Publikum zu erziehen. Man muss den Menschen eine Anleitung geben, wie Kunst zu verstehen ist; man muss sie auffordern, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Dennoch stoße ich immer wieder an eine Mauer, denn die große Menge will sich nicht von der überholten Ansicht befreien lassen, allein das Schöne sei das Gute. Die Realität ist aber nicht immer schön.»
«Man strebt nach einem Wunschbild, nicht nach einem Abbild», meinte Martin.
«Genau», erwiderte Lichtwark. «Kommen Sie! Ich möchte Ihnen etwas zeigen.» Während er die Gruppe aus dem Raum führte, wandte er sich Sören zu. «Es handelt sich um das vorhin von Herrn Hellwege angedeutete Problem, zu dem ich gerne Ihren Rat einholen möchte. Wie Sie vielleicht wissen, habe ich vor einigen Jahren für die Kunsthalle die
Sammlung von Bildern aus Hamburg
ins Leben gerufen. Ich versuche seither, zeitgenössischen Malern, wie etwa Corinth, Slevogt, Kalckreuth und eben auch Liebermann, Porträtaufträge in der Stadt zu vermitteln. Nebenbei hoffe ich natürlich, dass eben auch Landschafts- und Genrebildnisse dieser Künstler, von Gönnern und wohlwollenden Spendern finanziert, für die Galerie der Kunsthalle erworben werden können. Nun, ich konnte unseren geschätzten Bürgermeister Petersen gewinnen, den Anfang für diese Reihe von Bildnissen zu machen. Max Liebermann hat also ein Porträt von ihm angefertigt. – Am besten zeige ich es Ihnen, damit Sie sich, nun ja, ein Bild machen können.» Lichtwark geleitete sie zu einer Tür, die etwas abseits an einem Korridor lag. Er schloss sie auf und ließ die Gruppe eintreten. Am Ende des Raumes stand eine große Staffelei,über der ein Leinentuch hing, das der Direktor nach hinten zurückschlug. «Voilà! – Unser Bürgermeister, Carl Friedrich Petersen!» Er ging einige Schritte zurück und stellte sich zu den anderen. «Was sagen Sie?»
«Der Gute liegt ja seit einiger Zeit unpässlich danieder», bemerkte Sören. Liebermann hatte den Bürgermeister im Ornat eines Hamburger Senators vor einem schlichten grauen Vorhang porträtiert, in dessen oberster rechter Ecke das Hamburger Stadtwappen zu erkennen war. In der rechten Hand hielt er ein Paar weiße
Weitere Kostenlose Bücher