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Der blaue Tod

Der blaue Tod

Titel: Der blaue Tod
Autoren: Boris Meyn
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sich gar nicht gekümmert. Fünf Mädchen hatte die. Eine davon war wohl ihre eigene. Die Kleinen haben immer geklopft und um was zu essen gebettelt, und die Größeren, na ja   … Kam schon des Öfteren vor, dass die Udls hier auftauchten. Sind wohl häufiger erwischt worden.»
    «Erwischt wobei?», fragte Sören nach. «Beim Stehlen?»
    «Beim Stehlen?» Die Frau lachte auf. «Na, schön wär’s. Nee, auf den Strich sind die gegangen. Aber die Udls haben wohl ein Auge zugedrückt   …»
    «Weil sie noch so jung waren?»
    «Das wohl weniger.» Die Frau schüttelte den Kopf. «Alle ham doch gewusst, was die   … Wie sagten Sie, wie die hieß?»
    «Bartels. Inge Bartels.»
    «Dass die Bartels nach Sonnenuntergang als Verschickse gearbeitet hat. Ohne Anmeldung und Taxe, versteht sich. Die Kleinen waren ja immer alleine nachts und haben gejammert. Klar, dass die dann auch mal für nischt die Röcke gelupft hat.»
    Eigentlich reichte Sören schon, was er erfahren hatte. Die Schilderungen der Frau und das ganze Umfeld hier waren so bedrückend, dass er seine Suche am liebsten sofort abgebrochen hätte. «Sie wissen nicht zufällig, wer die medizinische Versorgung der Kinder übernommen hat, wenn sie mal krank waren?», fragte er dennoch.
    «Das hat der Doktor Rieder gemacht. Der kommt ja aus Oben-Hamm. Ich weiß das, weil er auch meinem Otto das Bein versorgt hat, als es gebrochen war. Ein ganz Netter is das, wenn Sie wissen, was ich meine. Aber der war schon lange nicht mehr da. Ich glaube, der ist jetzt am Städtischen in St.   Georg.»
     
    Sören war geradezu froh, als er den staubigen Fahrtwind einatmen konnte, der ihm auf der Hammer Landstraße entgegenwehte. Dennoch wurde er das Gefühl nicht los, seine Kleidung hätte den Geruch aus dem schrecklichen Haus am Borstelmannsweg angenommen. Er hatte das dringende Bedürfnis, sich zu waschen. Zuvor aber wollte er nach diesem Dr.   Rieder fragen. Die Fahrt zum städtischenKrankenhaus bedeutete nur einen kleinen Umweg.
    «Dr.   Bischop! Ein Kollege?» Doktor Rieder ging auf das kleine Handwaschbecken neben der Zimmertür zu und wusch sich gründlich, bevor er Sören die Hand zur Begrüßung entgegenstreckte. Wie es aussah, kam er gerade von einer Visite. Rieder war etwa im gleichen Alter wie Sören.
    «Nicht wirklich», meinte Sören. «Ich habe zwar vor geraumer Zeit meinen Asklepiadenschwur geleistet, praktiziere aber schon seit langem nicht mehr.»
    «Nun, wer einmal den Eid des Hippokrates abgelegt hat, bleibt der heilenden Zunft auf Lebenszeit verbunden. Womit kann ich dienen, Dr.   Bischop?»
    «Ich versuche, die ethischen Leitsätze des Handelns auch bei meiner jetzigen Tätigkeit stets zu berücksichtigen. Auch wenn das natürlich nur bedingt möglich ist. Nein, ich bin Advokat, und eine Mandantin beauftragte mich mit der Suche nach einem ehemaligen Kostkind. Ein Mädchen wahrscheinlich, wie ich inzwischen in Erfahrung gebracht habe, dessen Werdegang und Aufenthaltsort mir aber nicht bekannt sind. Allerdings besteht die Möglichkeit, dass Sie das Kind vor etwa acht Jahren behandelt haben.» Sören reichte dem Arzt die alte Quittung.
    Rieder betrachtete den Zettel. «Das ist in der Tat meine Handschrift. – Vor acht Jahren, sagten Sie?»
    Sören nickte. «Der Name der Landamme ist Inge Bartels. Bis vor einem halben Jahr hat sie mit fünf Kindern in einer kleinen Wohnung im Borstelmannsweg gelebt. Eine Nachbarin nannte Ihren Namen.»
    Der Arzt fuhr sich nachdenklich mit der Hand durch den Bart. «Inge Bartels, Inge Bartels   … Ich erinnere michschwach; und ungerne, wenn es die ist, die ich meine. Die hatte einen ganzen Haufen Mädchen; wohnte aber hinter den Höfen in einem alten Landarbeiterhaus.»
    «Das ist gut möglich», meinte Sören. «Die Häuser am Borstelmannsweg sind noch nicht so alt.»
    Rieder nickte. «Ich hatte zu der Zeit einen Großteil der ärztlichen Versorgung in Hamm. Vor allem bei der ärmeren Bevölkerung. Viele von ihnen sind in den Borstelmannsweg gezogen. Jetzt steuern ja die Armenpfleger die Versorgung. Entsprechend viele Einweisungen gibt es. Ich bin seit drei Jahren hier am städtischen Krankenhaus. Seit Anfang des Jahres haben sich die Einlieferungszahlen nahezu verdoppelt.» Er machte ein besorgtes Gesicht. «Und seit zwei Tagen müssen wir vorzeitig entlassen, um Betten freizubekommen. Es werden auffällig viele Fälle von Brechdurchfall und akutem Darmkatarrh eingeliefert – zu viele, selbst für diese Sommerhitze.
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