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Der blaue Tod

Der blaue Tod

Titel: Der blaue Tod
Autoren: Boris Meyn
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Sören deutete formvollendet einen Handkuss an und machte den Vorschlag,einen solchen Ausflug doch beizeiten zu wiederholen.
    «Gerne», antwortete Fräulein Eschenbach und strahlte ihn an. «Vielleicht, wenn es Ihrem Fuß wieder besser geht?»
    Sören lächelte. «Der Arzt sagte etwas von zwei bis drei Tagen.» Das war natürlich gelogen. Hugo Simon hatte von Wochen gesprochen, nicht von Tagen. Aber Sören fühlte sich in diesem Moment schon völlig kuriert.

Fäulnis 
    16.   August
     
    D er Vorteil der Anfang vergangenen Jahres eingeführten Meldepflicht war, dass es nun vergleichsweise leicht fiel, den Wohnort bestimmter Personen zu erfahren. Vor allem, wenn man über gute Beziehungen verfügte – und die hatte Sören Bischop. Natürlich hätte «Inge Bartels» ein falscher Name sein können, und bei einer Landamme war die Wahrscheinlichkeit, dass sie außerhalb des Hamburger Stadtgebietes lebte, nicht gering. Aber Sören hatte Glück. Das Melderegister vom Juni des Vorjahres wies tatsächlich eine Inge Bartels aus. Wohnhaft in Hamm, Borstelmannsweg Nummer 137.
    Das Fußgelenk war inzwischen etwas abgeschwollen, sodass Sören sich mit der eigenen Droschke auf den Weg machen konnte. Eine Linie der Pferdebahn gab es nach Hamm bislang ja auch noch nicht. Obwohl Sören das Verdeck des offenen Zweisitzers aufgestellt hatte, brannte die Sonne erbärmlich. Heute Vormittag war auch noch der Wind eingeschlafen, der in den Tagen zuvor für ein wenig Erfrischung gesorgt hatte. Als er kurz nach Mittag die Alsterbrücke überquerte, konnte er die schlaff herabhängenden Segel der kleinen Dinghis erkennen, die rund um die Alsterlust vor sich hin dümpelten. Die Luft war unangenehm staubig, und Sören drosselte das Tempo, als er die kleine Steigung des Glockengießerwalls hinter sich hatte. Der Blick auf die Kunsthalle erinnerte ihn an sein Vorhaben, Fräulein Eschenbach am nächsten Tag nach der Abendvorstellung vom Stadttheater abzuholen und in das neu eröffneteGartenlocal am Botanischen Garten auszuführen. Eine ausgezeichnete Idee, wie er fand, aber die süßen Gedanken, die ihm durch den Kopf gingen, hätten fast zu einem Unfall geführt.
    Der große Planwagen, der ihm vor der neuen Gewerbeschule vor das Gefährt preschte, zwang Sören zu einer Vollbremsung. Nachdem sich das Pferd wieder beruhigt hatte, bog er in die Norderstraße ein und fuhr an der Münze vorbei bis zum Lübecker Bahnhof. Hier hielt er kurz an und überlegte, auf welcher Höhe der Straße in Hamm sich Hausnummer 137 wohl befinden mochte. Der Borstelmannsweg führte vom Hang des Geestrückens, der den ganzen Stadtteil einem hohen Wall gleich in zwei Teile schnitt, bis hinunter zum Billwärder Ausschlag. Sören entschloss sich, den Weg an der Bille entlang zu nehmen. Er unterquerte die Gleise des Bahnhofs und setzte die Fahrt über die Spaldingstraße in Richtung Heidenkampsweg fort.
    Die hohen Mauern der Etagenhäuser am Heidenkampsweg warfen ihre Schatten bereits weit auf die Straße. Nirgendwo in der Stadt ragten die Fassaden der Zinshäuser so hoch wie hier im Hammerbrook. Obwohl Sören den Schatten in diesem Moment genoss, mochte er das Quartier mit seinen großen Baublöcken nicht. Während seiner Kindheit hatte man damit begonnen, das hier vor den Toren der Stadt gelegene Marschland konsequent zu entwässern und aufzuschütten, um ein neues Wohngebiet zu schaffen. Am Anfang war nicht absehbar gewesen, wie es hier einmal aussehen würde, aber nachdem in der Innenstadt das Kehrwieder- und das Wandrahmviertel für die Zollanschlussbauten niedergelegt worden waren, hatte sich ein großer Teil der dort lebenden Menschen hier im hafennah gelegenen Hammerbrookniedergelassen. Innerhalb weniger Jahre war das ganze Gebiet bis auf den letzten Quadratmeter erschlossen worden. Die riesigen Baublöcke hatten bis zu sechs Etagen. Sören blickte im Vorbeifahren in eine der großen Tordurchfahrten, durch die man in die dahinter gelegenen Höfe gelangte, die teilweise nur noch wenige Meter breite Gassen waren, da man den Raum mit quer zur Straße angeordneten Terrassenzeilen lückenlos verbaut hatte. Wenn man die Höhe der Gebäude berücksichtigte, herrschte hier im Hammerbrook inzwischen die gleiche Enge wie in den Gängevierteln der Altstadt. Nur für wenige Minuten am Tag kam das Sonnenlicht in die Höfe, an einigen Stellen nie.
    Auf der anderen Straßenseite erstreckte sich ein Hochwasserbassin parallel zum Heidenkampsweg. Dahinter lagen die riesigen
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