Der blaue Vogel kehrt zurück
lassen. Ich zweifle zwar weder an seinem Urteilsvermögen noch an seiner Tüchtigkeit – ich kannmir sogar vorstellen, dass er in der Lage wäre, mich zu heilen –, aber ich habe nun mal nicht das Gefühl, dass das der Sinn der Sache ist.
Gegen die Röntgenaufnahme meiner Lunge habe ich nichts einzuwenden, weil ich, solange es mich noch gibt, gern etwas erleben möchte und den Leuten hier damit einen Gefallen tun kann, aber jetzt wäre es mir doch lieber, wenn man sie verschieben würde. Auf ein anderes Mal, wenn ich nicht so angespannt bin. Wenn ich so recht darüber nachdenke, lassen Sie mich besser einfach nur hier liegen. Das werde ich sagen. Kommen Sie zu mir. Ich rühre mich nicht vom Fleck. Seien Sie ein guter Arzt an meinem Bett. Schaffen Sie alles herbei, ob sicher oder ungewiss, ob Sorgen oder Wünsche, schleifen Sie die Welt nur zu mir herein. Legen Sie mir alles vor, ich will dann darüber nachdenken, solange ich das noch kann, aber …
»Meneer Jacobson? Sind wir so weit?«
Ein großer, starker Kerl. Freundliche Augen. Eine Narbe auf der Wange.
»Können Sie mich bitte vorsichtig hochheben?«
»Hochheben? Ich denke nicht dran.«
Routiniert tritt er auf ein paar Pedale und rollt mich samt Bett aus dem Zimmer.
»Ich bin Pieter.«
»Danke sehr.« Auf die Schnelle fällt mir nichts Besseres ein.
Jetzt, da mir eine große Unannehmlichkeit erspart bleibt, geben meine verkrampften Muskeln ihren Widerstand auf. Eine kleine Reise im Bett, dagegen haben sie nichts einzuwenden.
Pieter sagt, wir müssten nur ein Stockwerk tiefer, aber ich habe keine Ahnung, wie viele Stockwerke es überhaupt gibt.
Die Rollen meines Bettes klingen, als würden sie am Boden haften bleiben. Wir fahren durch eine Ammoniakwolke, an einemRaum vorbei, in dem man Kaffee bekommt und wo Girlanden hängen. Als wir vor einer Pendeltür warten, blicke ich in das gelbe Gesicht eines Leidensgefährten, der auch mit Bett und allem unterwegs ist. Links, rechts, links. Stehen bleiben. Weiterfahren. Stehen bleiben. Mir wird übel.
»Gleich haben Sie es geschafft.«
»Man hat lange keine Aufnahme mehr von mir gemacht«, sage ich.
War das in Belo Horizonte? Ich tauche in meine Erinnerungen. Ich sehe Vicky, einen Arm vor dem Bauch, den anderen locker neben dem Oberkörper. Sie steht vor meiner, vor unserer Wohnung. Links auf dem Foto ist ein Stück der Schulter des Nachbarjungen, den sie im letzten Moment aus dem Bild scheuchen wollte. Ich sehe mich selbst wieder, hinter der Kamera. Nicht davor.
»Sind Sie denn fotogen?«
Vielleicht war ich das in Milho Verde, ja, da ganz bestimmt.
»Halt endlich still, Azulão!«
»Aber das ist doch ein Schaukelstuhl, meu Neném !«
Die Kufen knarrten auf den Dielen. Die Sonne schien unbändig und eine leichte Brise blies durch meine dünne Leinenhose. Ich hob den Strohhut ein Stück hoch. Nana lachte. »Halt still!«
Als ich meine nackten braunen Füße auf den Boden stellte, drückte sie auf den Auslöser. Das Foto, ein Salut auf die Zukunft, stand jahrelang eingerahmt auf ihrem Schreibtisch. Genau genommen ganz umsonst, denn ich war bis zu ihrem allerletzten Atemzug leibhaftig anwesend.
Wir rollen in einen Raum, in dem ein paar weiße Apparate stehen.
»Es geht gleich weiter.«
»Vielen Dank, Pieter.«
Beim Warten versuche ich mich an andere Momente zu erinnern, in denen ich posieren musste. Wo mag wohl jetzt das Fotoalbum sein, das in der Tolstraat zurückblieb, als ich das Land verließ? Es gibt Fotos von mir als Baby, Kleinkind und kleinem Jungen, immer durch die Augen meines Vaters. Die erste Aufnahme nach seinem Tod machte ein Fotograf in der Kalverstraat, es war für meinen Personalausweis.
Eine junge Frau kommt hinter einer Wand hervor, in die ein Fenster eingelassen ist, und fragt mich, ob ich wohl in der Lage sei, einen Augenblick aufrecht zu stehen. »Natürlich.«
Sie hilft mir beim Aufsetzen, stützt mich, als ich drohe vornüberzukippen. »Geht es wirklich?«
»Sicher, sicher.«
Einen Augenblick aufrecht stehen. Das muss doch möglich sein. Gleich wieder liegen. Mich schnell wieder hinlegen.
»Vorsicht. Da. Legen Sie das Kinn auf die Auflage.«
Ich schlurfe vor. Eine pathetische Karikatur meines Ehrgeizes, ihr zu zeigen, was ich alles noch hinbekomme.
»Wenn ich Ihnen ein Zeichen gebe, bleiben Sie so still wie möglich stehen. Einverstanden?«
»Gut.«
Ich halte den Atem an.
42
Bobby Delmonte behauptete, er würde bei seinen Eltern am Zeeburgerdijk wohnen. Wenn ich
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