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Der blaue Vogel kehrt zurück

Der blaue Vogel kehrt zurück

Titel: Der blaue Vogel kehrt zurück Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arjan Visser
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Tolstraat, an der Schleiferei vorbei zum Amsteldijk. Ich spazierte bis zum Friedhof und lief ab dort immer schneller, bis ich ein flottes Tempo erreicht hatte. Ich blieb vor dem Lokal Het Kalfje stehen, machte ein paar Dehnübungen und rannte in einem Stück bis nach Ouderkerk aan de Amstel. Auf dem Bürgersteig vor der Brasserie Paardenburg legte ich eine fünfminütige Pause ein. Auf demRückweg versuchte ich, das Tempo noch weiter zu steigern. Bei der Berlage-Brücke angekommen, wusste ich kaum mehr, an was ich die letzte Stunde gedacht hatte.
    Ich hatte das Wasser und die Wolken gesehen, Blässhühner und Reiher. Ein Schlepper war an mir vorbeigefahren, ein Pferdewagen hatte mich überholt. Ein ganz gewöhnlicher Tag. Jetzt konnte ich mich umziehen und zum Bahnhof gehen, als wäre nichts Besonderes.

44
    Erst dachte ich, Catharina wäre in Gedanken versunken, doch dann wurde mir klar, dass sie aufs Äußerste angespannt gewesen war. Als sie mich erblickte, riss sie die Augen weit auf, winkte und lief los, um mir wie vereinbart um den Hals zu fallen.
    »Denk dran, wir sind ein Liebespaar und gehen zusammen auf eine Reise.«
    Ihre Mantelschöße flatterten, und sie hielt das schwarze Ofenrohr mit einer Hand auf dem Kopf fest.
    Ich sehe es wieder geschehen, ich weiß, was geschehen wird, kann aber dennoch nichts tun. Nicht jetzt. Und damals auch nicht. Irgendwo war etwas in Gang gesetzt worden, das erst aufhören würde, wenn es abgeschlossen wäre.
    Ich hörte einen Knall. Später dachte ich: Dieses Geräusch haben wir alle gehört. Der Schütze, das Opfer und die Umstehenden. Wie viel Zeit mag verstrichen sein zwischen dem Moment, in dem der Schuss abgegeben wurde, und jenem, in dem die Kugel ihr Ziel erreichte? Ich weiß nicht, wie lang die Spanne zwischen Ursache und Wirkung war. In dieser Wolke aus Zeit und Raum herrschte eine friedliche Stille; das Leben hielt den Atem an.
    Die Erste, die sich bewegte, war Catharina. Sie krümmte sich zusammen, schrie, hielt ihr Bein umklammert und stürzte zu Boden.
    Hätte ich ihr geholfen, wenn ich nicht gesehen hätte, dass er dort stand? Wenn ich sofort eingegriffen hätte, anstatt darüber nachzugrübeln: Ist er das wirklich? Was hat er hier zu suchen?
    Der Mann, den ich für Delmonte hielt, hatte sich inzwischen umgedreht und entfernte sich, als hätte er nichts mit der ganzen Sache zu tun. In gewisser Weise reagierte ich ähnlich; ich blieb stehen und sah zu, als ginge mich das nichts an. Selbst die Menschen, die tatsächlich zufällig da waren, schienen zu zögern, ob sie der verwundeten Frau zu Hilfe kommen sollten.
    Ich rührte mich erst vom Fleck, als einer der Umstehenden sich aus der Gruppe löste und sich über Catharina beugte. Sie blickte in meine Richtung, ich sah, wie ihre Lippen sich bewegten. »Mach, dass du wegkommst!« oder »Lass mich nicht allein!« – das durfte ich mir selbst aussuchen.
    Mein Herz schlug ruhig, vielleicht sogar ruhiger als vor dem Schuss. Ich entfernte mich von der Unglücksstelle, langsam und ohne einen Blick zurückzutun. In der Bahnhofshalle konnte ich mich unter die Menge mischen, hier waren Menschen, die ein Ziel hatten. Auf dem Weg von zu Hause zu ihrer Arbeit oder irgendwohin zu Besuch, alltägliche Fahrten. Vielleicht waren auch ein paar Flüchtlinge wie ich darunter, doch außer mir brauchte sich keiner für den Anschlag draußen auf dem Vorplatz schuldig zu fühlen.
    Lass mich nicht allein.
    »Eine Rückfahrkarte nach Den Bosch, bitte.« Der Schalterbeamte war der Erste, an dem ich meine Kaltblütigkeit testete. Vielleicht würde er mir ja von den Augen ablesen können, dass ich eigentlich »Zwei Rückfahrkarten nach Den Bosch, bitte« hätte sagen sollen. Ohne ihn anzusehen, gab ich ihm das Geld und er mir die Zugfahrkarte. Alles bestens.
    Mach, dass du wegkommst.
    Ich ging zum Gleis, stieg in den wartenden Zug, suchte mir einen Platz am Gang. Am Fenster saß eine alte Dame, die mich anlächelte, die Tasche auf ihrem Schoß an sich drückte und dann die Augen schloss. Der Zug setzte sich mit einem Ruck in Bewegung. Die Abteiltür flog auf und ein junger Mann warf sich auf die Bank gegenüber. Sein Gesicht war hochrot.
    »Eine Schießerei!«, sagte er. »Auf dem Bahnhofsplatz.«
    Die alte Frau begrüßte den neuen Reisegenossen genauso, wie sie mich begrüßt hatte. Ich sagte: »Das gibt es doch gar nicht.«
    »Direkt vor meiner Nase!«
    Als wollte ich einen Kommentar auf die heutige Zeit abgeben, in der etwas Derartiges

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