Der blaue Vogel kehrt zurück
Mahlzeit wird mir von einer Person gebracht, die mich zu kennen scheint, doch das ist nicht weiter bemerkenswert; manchmal habe ich das Gefühl, dass ich der Einzige bin, der ein großes Geheimnis nicht kennt, der nicht auf dem Laufenden ist.
Das Geheimnis bin ich, oder besser gesagt, es ist mein Zustand. Wie es mir geht, welches Ende es mit mir nehmen wird. Weiter abwärts bis zum Tod, mehr ist nicht drin. Das ist nicht so schwer zu verstehen, aber ich kann mir vorstellen, warum sie um den heißen Brei herumreden; schließlich möchten die meisten Menschen lieber am Leben bleiben.
Das wird mir auf viele unterschiedliche Arten deutlich: Ich sei verwirrt, sagen sie, sei nicht ich selbst – sofern sie überhaupt beurteilen können, wer ich bin –, ich sähe Menschen, die nicht da seien. Gott weiß, welchen Blödsinn ich verzapft habe, was ich da alles preisgegeben oder mir selbst eingeredet habe.
Das ist eigentlich nicht weiter wichtig, doch nachdem ich der munteren Amsterdamer Dame versprochen habe, mein Brötchen aufzuessen, und sie schließlich ihren klappernden Wagen in ein anderes Zimmer weitergeschoben hat, versuche ich doch herauszufinden, wen ich in Wirklichkeit gesehen habe, wen imHalbschlaf und wen, als ich Fieber hatte oder unter dem Einfluss von Medikamenten stand.
Ich nehme das Notizbuch und den Stift vom Nachttisch neben meinem Bett und mache mir nichts daraus, dass ich mich nicht daran erinnern kann, wie sie dort hingekommen sind.
Ich halte es für eine gute Idee, bei den Menschen anzufangen, bei denen ich mir sicher bin, dass es sie nicht mehr gibt, und beschließe, chronologisch vorzugehen.
Beim Gedanken an das grausame Ende meines Vaters notiere ich: Papa und eine ganz besondere Tante. Darunter schreibe ich die Namen von Mutter und Landau. Es fällt mir schwer, weiterzumachen, die Versuchung, sie heraufzubeschwören, um ihren Verlust zu beklagen und zu betrauern, ist groß. Dafür gibt es das Kaddisch, weise ich mich zurecht, jetzt bist du mit Buchhaltung beschäftigt. Also mache ich weiter und schreibe: Onkel Louis, Kosmann, ein paar alte Boxhelden natürlich, aber auch Mevrouw Van Groen – sie kann unmöglich noch am Leben sein –, der Chef, Brander, Kalf, Nana … Beim Schwänzchen nach dem letzten A breitet sich ein Tintenfleck aus, sehe ich.
Vielleicht ist es ratsamer, mit den Namen der Menschen anzufangen, die definitiv noch am Leben sind.
Vier Krankenschwestern und ein Arzt, Dr. Steenstra, der Assistenzarzt, der mich an Augusto erinnert … Augusto! In welche Rubrik gehört er? Diesmal kann ich mich nicht beherrschen. Ich verirre mich nach Serro, zum Haus meines Freundes, diesem gelb verputzten Kasten im Grünen, und denke an die langen Abende, die wir zusammen in seinem Garten verbracht haben. Ich erinnere mich an seine Haushälterin und die herrlichen Gerichte, die sie uns zubereitete. Selbst eine einfache feijoada schmeckte bei ihr hervorragend. Sie war älter als ich und kann mit ziemlicher Sicherheit zu den Toten gezählt werden. In geschwungenenBuchstaben: Augustos Haushälterin. Die kleine, dicke Frau aus dem Binnenland von Pernambuco, eigensinnig, spröde, aber treu wie ein Hund. Und Augusto selbst natürlich, ja, tot und begraben. Genauso gestorben wie der Name neben dem Tintenklecks: von einem Moment auf den nächsten, im Garten, kopfüber in die Blumen.
Ich blättere zurück zu den Lebenden. Unter Steenstras Namen schreibe ich Kaptein hin, zwei Mal: die kranke Frau und ihr dämlicher Mann. Wenn mein Gedächtnis mich nicht trügt, stand er ein paar Mal neben meinem Bett. Er hat mir von einer Affäre erzählt oder von dem, was er dafür hält, mit einer Haushaltshilfe. Nicht weil er sie mir beichten wollte, sondern um damit anzugeben. In dieselbe Kategorie wie er, die der Unzuverlässigen, gehört der junge Mann. Sander, Jasper oder so.
Männer wie die beiden sind mir in meinem Leben öfter begegnet – Typen, die, kaum wittern sie einen Vorteil für sich, das Interesse am Rest der Geschichte nur noch heucheln können. Ich habe keine Ahnung, was ich diesem Freund von Sonja in meiner verlorenen Zeit alles erzählt habe, aber anscheinend habe ich ihn auf irgendwelche Gedanken gebracht, denn er saugte sich an mir fest und ließ erst locker, als er mir alles über Milho Verde und mein Leben dort aus der Nase gezogen hatte.
Sonja.
»Guten Tag!«
»Ach, was für ein Zufall!«
»Führen Sie Tagebuch?«
»Nein, nein.« Ich räume das Büchlein weg.
Sie hat mir eine
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