Der blaue Vogel kehrt zurück
Ingwerschnecke mitgebracht. Woher sie weiß, dass ich das Gebäck mag, ist mir ganz egal. Sie hilft mir aus dem Bett in den Rollstuhl. Ich würde gern mit ihr ins Grüne fahren, aber ich gebe mich auch mit den paar Metern zufrieden, die wirzusammen zum Aufzug zurücklegen, drei Stockwerke hinunter, nach links, am Restaurant und an der Rezeption vorbei zu dem kleinen Platz draußen, wo sie den Rollstuhl zwischen eingefleischte Raucher und andere alte Knaben wie mich stellt.
Mir liegt viel an unseren Gesprächen, vor allem dann, wenn sie redet.
»Manchmal stelle ich mir vor, wie es ist, wenn ich alt bin«, sagt sie, »mit ein paar Menschen um mich herum, die nur da sind, weil es ihnen ein gutes Gefühl gibt, für mich zu sorgen. Und ich bin so eine alte Giftspritze mit lauter Zipperlein, von mir selbst enttäuscht und auf alle anderen sauer. In zehn Jahren werde ich beschließen, dass es zu spät ist, noch Mutter zu werden. Mit Walter will ich keine Kinder, und wer weiß, ob mir der Richtige noch rechtzeitig begegnet. Wahrscheinlich lerne ich ihn zu spät kennen. Dann wird er mir wahrscheinlich mitteilen, dass er mich trotz meiner Schwächen liebt, aber nach einer Weile werden ihm meine Launen auf den Wecker gehen, und er wird sich klammheimlich eine andere suchen.«
Meine Hand hört nicht auf das Kommando, nach ihrem Arm zu tasten und sich für einen Moment daraufzulegen.
»Ich werde allein bleiben. Davon ist auszugehen. Mit ein paar verzogenen Katzen oder so. Manchmal stelle ich mir das nicht bloß vor, sondern bin überzeugt davon, dass es genau so kommen wird. Und dass ich es überhaupt nicht verhindern kann.«
Ich zerbreche mir den Kopf darüber, wie ich ihr begreiflich machen könnte, dass sie sich vielleicht täuscht, doch wenn schon ein Gleichaltriger wie Augusto meint, dass ich schwafele wie ein Heiliger, wie mag sich mein Gerede dann wohl für eine junge Frau anhören? Soll ich ihr raten, sich keine unnützen Vorstellungen zu machen? Ihr sagen, dass unnütze Vorstellungen bloß unnütze Handlungen zur Folge haben? Oder soll ich ihrer »Alleinauf der Welt«-Geschichte entgegensetzen, dass diese Welt, der ganze Kosmos, Veränderung ist und das Leben nichts anderes als unsere Art, diese Veränderung zu betrachten?
In Gedanken sehe ich sie zuhören, mit dem ernsten Blick, den ich inzwischen von ihr kenne. Sie würde sagen, dass ich ein weiser alter Mann sei. Und sich dann für lange Zeit nicht mehr an meine Worte erinnern.
»Na ja«, sagt sie, »es sind ja bloß Gedanken.«
Sonja schiebt mich durch den Gang, an einem Lift vorbei zur Eingangshalle. Sie kommentiert alles auf unserem Weg. Ich wackele ein bisschen mit dem Kopf, als würde ich sie verstehen. Im Aufzug nach oben ist sie still. Mir fällt auch nichts ein. Bei der automatischen Tür zur Abteilung nimmt uns eine junge Krankenschwester in Empfang, wahrscheinlich will sie mir wieder ein paar rhetorische Fragen stellen. »Soll ich ihn ab hier übernehmen?«
»Okay«, sagt Sonja.
Sie gibt mich weg.
»Kommst du morgen wieder?«
»Wenn es Ihnen recht ist? Es ist verkehrte Welt … Es fühlt sich fast so an, als wäre ich hier, weil ich Sie brauche.«
»Wir brauchen einander«, sage ich.
Der Kuss, nach dem ich mich sehne, landet sanft auf meiner Stirn.
41
Ich warte darauf, dass sie kommen, um mich in ein anderes Bett zu hieven und zum Röntgen zu bringen. Diese Vorstellung macht mich ganz unruhig. Ich glaube, dass ich das Gezerre nicht werde ertragen können.
Ich kann meinen Kopf nur ein kleines Stück drehen, und innerhalb dieses Bereichs sehe ich nichts, was zu meiner Beruhigung beitragen könnte. Hinten in der Ecke hat Mevrouw Kaptein die Beine aufgestellt. Der Mann mir gegenüber wurde wahrscheinlich eingeliefert, als ich geschlafen habe. Er ist in ein Netz aus Schläuchen und Drähten gebettet. Ein Schlauch hängt ihm wie eine Pfeife im Mundwinkel. Seine Augen sind weit geöffnet. Von Zeit zu Zeit bringt er ein hohes Fiepen hervor. Er tut mir leid – nicht dass es um mich so viel besser bestellt wäre, aber ich weiß zumindest, woran ich bin.
Das steht in keinem Bericht. Niemand hat mir gesagt, dass ich mich »aufs Schlimmste« gefasst machen muss. Was ich weiß, weiß ich ganz tief im Inneren. Wie bei einem heraufziehenden Unwetter, das man fast schon riechen kann, wenn man es erwartet.
Ich habe mich mit allem einverstanden erklärt, was Dr. Steenstra von Amts wegen noch mit mir anstellen möchte. Das Beste ist, ihn einfach machen zu
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