Der Blaumilchkanal
Ägypten keine Zeit, sich mit der Zubereitung von Sauerteig abzugeben, und zur Erinnerung daran essen wir noch heute während des Pessachfestes ausschließlich ungesäuertes Brot, um uns darüber zu freuen, daß wir damals der ägyptischen Sklaverei entronnen sind und heute mit den Ägyptern einen Friedensvertrag haben.
Wir freuen uns volle acht Tage lang, denn so lange dauert das Pessachfest. Falls irgend jemand einmal versucht haben sollte, acht Tage lang von purem Pappendeckel zu leben, wird er begreifen, warum wir für den Rest des Jahres nur noch auf gesäuertes Brot Wert legen.
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DAUERHAFTES ERGEBNIS EINES ÜBERSTÜRZTEN EXODUS
An einem dieser Nach-Pessach-Tage, einem Mittwoch, wenn ich nicht irre, nein, an einem Dienstag traf ich in der Stadt meinen Freund Jossele, der unter seinem Arm ein großes, viereckiges, in braunes Packpapier verpacktes Paket trug. Wir gingen ein Stück miteinander und unterhielten uns über verschiedene Probleme der Philosophie und über die aktuellen Börsenkurse. Plötzlich blieb Jossele stehen und reichte mir das Paket:
»Bitte sei so gut und halt mir das eine Minute. Ich muß in diesem Haus etwas abholen. Bin gleich wieder da.«
Nachdem ich eine Stunde mit dem Paket in der Hand gewartet hatte, ahnte ich Böses und ging Jossele suchen. Die Bewohner des Hauses, in dem Jossele verschwunden war, waren empört. Jossele hatte die Rückmauer des Hauses gewaltsam durchbrochen und war verschwunden. Meine Ahnungen verstärkten sich. Nervös riß ich das braune Packpapier auf und fand darin eine Schachtel Mazzes mit dem noch unversehrten Siegel des Rabbinats.
Zunächst schien mir Josseles Vorgehen rätselhaft. Was hatte ihn zu seiner Verzweiflungstat veranlaßt? Vor allem aber, was sollte ich mit den Mazzes anfangen? Ich brauchte sie nicht. Ich hatte noch sechs Schachteln zu Hause.
jCurz entschlossen schloß ich das Paket und reichte es einem Hausbewohner:
»Entschuldigen Sie«, sagte ich. »Könnten Sie das einen Augenblick halten?«
Der Mann drückte das Paket gegen sein Ohr, was ein verräterisches Knacken zur Folge hatte, und riß die Verpackung wieder auf.
»Dachte ich's doch!« rief er triumphierend. »Da sind Sie aber an den Falschen gekommen, mein Herr. Ich habe selbst noch neun Pakete, die ich nicht loswerde. Verschwinden Sie mitsamt Ihren Mazzes und lassen Sie sich hier nie wieder blicken.«
Jetzt begann ich Josseles Verzweiflung zu verstehen, ja nachzufühlen. Aber das änderte nichts daran, daß ich mich der Brösel entledigen mußte.
In der nächsten Grünanlage legte ich das Paket unauffällig auf eine Bank und machte mich hastig aus dem Staub. Aber schon nach wenigen Schritten meldeten sich die ersten Gewissensbisse. »Schande über dich!« hörte ich meine traditionsbewußte innere Stimme flüstern. »Läßt man Mazzes in der Wildnis liegen? Dazu sind wir aus Ägypten ausgezogen? Hat uns der Herr dazu aus den Banden Pharaos befreit?« Es war also die Erkenntnis, etwas Unrechtes getan zu haben, die mich in den Park zur verwaisten Mazzesschachtel zurückzog. Zu meiner Verblüffung lagen jetzt zwei auf der Bank. Irgend jemand hatte meine kurze Abwesenheit schamlos ausgenutzt. Was blieb mir übrig, als beide Schachteln mitzunehmen. Ich wunderte mich nur, daß ein Jude einem andern Juden so etwas antun kann.
*
In Schweiß gebadet kam ich zum Haus meines Onkels Jakob, in das ich durchs Küchenfenster einsteigen mußte, weil die Haustüre von großen, viereckigen Paketen in braunem Packpapier verbarrikadiert war. Wir plauderten ein Weilchen über dies und das, dann tat ich, als wäre mir etwas sehr Dringendes eingefallen, entschuldigte mich ganz plötzlich und sprang zum Fenster hinaus. Unten auf der Straße lachte ich mich halb tot, meine Mazzes waren jetzt beim guten alten Onkel Jakob bestens aufgehoben.
Ich war noch keine zehn Minuten zu Hause, da klopfte es. Ein Jemenite stand vor der Tür, schob sechs Schachteln Mazzes herein, warf einen Brief hinterher und verschwand.
»Sende Dir die sechs Schachteln Mazzes, die Du bei mir vergessen hast«, schrieb der gute alte Onkel Jakob. »Möchte Dich nicht berauben. Gib nächstens besser acht.«
Am nächsten Tag mietete ich einen dreirädrigen Lieferwagen, beförderte die Pakete zum nächsten Postamt und schickte sie anonym an Schlomo, der in einem weit entfernten Kibbuz lebt. Ich war sehr stolz auf diesen Einfall.
Aber ich war nicht der einzigerer ihn hatte. Drei Tage später brachte mir
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