Der Blaumilchkanal
Opa Ludwig erschien für einen Augenblick an der Tür, schaute verständnisvoll zu und stimmte bewegt das Lied an:
»O Tannenbaum, o Tannenbaum...«
Es war wirklich einmalig. Nach einer weiteren Viertelstunde gaben wir unsere ergebnislose Suche auf.
»Nächstes Jahr klappt es bestimmt«, tröstete mich Gunhild Linsmeyer. Während sich ihr Gatte erfolglos gegen die Schläge von Klein-Klaus-Dieter wehrte, legte sich Opa Ludwig zum Mittagsschläfchen in die Badewanne ...
Ich zog mich auf Zehenspitzen vom Schlachtfeld in eine entfernte Ecke zurück und ließ mich erschöpft in den zweiten Fauteuil fallen.
Kratsch ...!
Sechs stramme Schokoladeneier gaben unter mir ihren Geist auf. Ich wagte nicht, mich zu rühren, und sann mit geschlossenen Augen darüber nach, daß ich künftig fremde Feste nicht ohne Gebrauchsanweisung feiern würde.
Zur Abwechslung wollen wir uns jetzt mit einem Feiertag beschäftigen, der nicht der anstrengenden Ruhe gilt und uns nicht Jahr für Jahr daran erinnert, daß unsere Vorväter die Pyramiden gebaut haben. Ich bin stolz und glücklich, daß es auch für Juden einen fröhlichen Feiertag gibt. Die Bibel nennt ihn Purim.
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EIN MELANCHOLISCHER FREUDENTAG ODER KARNEVAL DER NETZSTRÜMFFE
Vor vielen, vielen Jahren, so erzählt das Buch Esther, töteten die Juden Persiens ihre Häscher und hängten ihren hinterhältigen Anführer, Haman den Gemeinen, an einem hohen Baum auf. Seither gedenken wir unserer wundersamen Rettung mit großer Freude und Heiterkeit. Aus den Quellen läßt sich entnehmen, daß dieses Fest auf dem Marktplatz der persischen Hauptstadt Susa damals besonders gut organisiert war. Das Thema der Party hieß »Law and Order«. Königin Esther erschien in schwarzem Mini und Netzstrümpfen, ihr Onkel Mordechai als Verkehrspolizist, und es steht geschrieben, daß viele Völker der Erde aus Angst zum Judentum übertraten, was ich ein wenig bezweifle. Es war eine besonders gelungene Veranstaltung, leider wollte aber keine echte Freude aufkommen, und zum Schluß gingen alle ziemlich deprimiert nach Hause.
Auch während der darauffolgenden Jahre in der Diaspora wurde die Tradition des Purimfestes hochgehalten. Unsere Väter verkleideten sich als Verkehrspolizisten, unsere Mütter als Königin Esther in schwarzem Mini und Netz Strümpfen, man trank Wein und tanzte bis zum Morgengrauen, aber die Freude war gedämpft, und zum Schluß gingen alle ziemlich deprimiert nach Hause.
Mit der Unabhängigkeitserklärung des jüdischen Staates trat die erhoffte Wende ein. Man feierte das erste Purimfest im eigenen Land. Die Männer verkleideten sich als Verkehrspolizisten, die Frauen als irgend jemand in Netzstrümpfen, und Judy Glück, die Gemahlin von Ingenieur Glück, sprang auf den Tisch und legte in ihrem schwarzen Mini einen hemmungslosen Chachacha hin. Endlich war das ganze Land von Heiterkeit erfüllt, wenn auch keine echte Freude aufkommen wollte. So ganz trostlos wurde es wenigstens erst nach Mitternacht. Die Straßen leerten sich, und alle schlichen frustriert nach Hause.
*
In den Jahren danach aber wurde alles anders. Die Kostüme wurden kostbarer, wir trugen Helme und königliche Schlafanzüge, während unsere Frauen sich in schwarze Minis und Netzstrümpfe hüllten. Ich war immer zu mehreren Partys geladen, ging jedoch meist mit dem sympathischen Ingenieur Glück aus, der sich zu einem wahren Partyhengst gemausert hatte. Wir tanzten und sangen bei schummriger Beleuchtung, aber mit Fröhlichkeit war es nicht so weit her. Wir fühlten, irgend etwas fehlte. Manch einer weinte, und andere sprachen von tiefen Depressionen.
Ich erinnere mich an eine einzige wirklich gelungene purimparty. Die Stimmung schäumte über, wir klatschten rhythmisch und mit jugendlichem Elan zum hemmungslosen Chachacha von Judy Glück, aber rechte Fröhlichkeit wollte einfach nicht aufkommen. Im Gegenteil, um halb zwei verzog sich unser Gastgeber ins Bad und hängte sich an der Dusche auf. Jedenfalls war es eine der miesesten Partys überhaupt.
»Wir haben offenbar unsere Traditionen noch nicht gefestigt«, meinte eine Dame in schwarzen Netzstrümpfen, »deshalb freut sich das Volk nicht.«
Einige behaupteten, uns sei Traurigkeit bereits in die Wiege gelegt worden. Außerdem begnügten wir uns mit alkoholfreiem Malzbier, statt uns einmal richtig vollaufen zu lassen. Nur unsere süßen Kleinen lieben das Purimfest, aber schließlich ist es doch kein Fest für
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