Der Blaumilchkanal
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DAS ELFTE GEBOT ODER EIN WEIHNACHTSBAUM FÜR ALLE
Für ein Land, das sich unglücklicherweise nur nach dem Slogan »Make War, not Love« richten kann, weil es seit dem Tag seiner Gründung gezwungen ist, Kriege zu führen, für ein solches Land hat das Weihnachtsfest als Symbol des Friedens auf Erden ganz besondere Bedeutung. Wir Israeli beneiden alle, die dieses wunderschöne Fest feiern können. Leider gehören wir nicht zu ihnen, obwohl Jesus der Nazarener eigentlich zu uns gehört. Christus war ein Jude, bevor er »zum Christentum übertrat«, wie mir mein enttäuschter Religionslehrer erklärte.
Meine erste Begegnung mit einem Weihnachtsbaum fand vor langer Zeit in einem Land des Exils statt, in dem ich auf die Welt gekommen und aufgewachsen bin, in Ungarn. Ich war der einzige jüdische Schüler in meiner Klasse und versuchte verzweifelt, mich Weihnachten nützlich zu erweisen. Zum Beispiel bot ich meinen christlichen Mitschülern an, mit ihnen die Weihnachtsbäume nach Hause zu tragen. Die Ablehnung war typisch für jene Zeit:
»Bemüh dich nicht. Ihr Juden habt ja unseren Heiland gekreuzigt.«
»Nein«, widersprach ich. »Ich nicht. Wirklich nicht.« Auch mein Vater wies die Anschuldigungen, die ich zu Hause wiederholte, entschieden zurück, und da ich ziemlich genau wußte, was er tat, hatte ich keinen Grund an seinen Worten zu zweifeln. Wenn er in eine Kreuzigung verwickelt gewesen wäre, hätte ich es bestimmt gewußt. Ebenso konnten meine sämtlichen Onkel mit einem einwandfreien Alibi dienen. Keiner von ihnen hatte jemals mit Pontius Pilatus gesprochen, aber auch als Komplizen kamen sie wegen der nicht unwesentlichen Zeitdifferenz nicht in Frage. Aber was half s. Ich mußte mich damit abfinden, daß das Weihnachtsfest nichts für mich war, und das kränkte mich.
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Wie jede jüdische Neurose überwand ich auch diese, als ich mein Vaterland und meine Muttersprache vor 45 Jahren gewechselt habe. In Israel endete die Zusammenarbeit zwischen uns und den übrigen Völkern der Erde, eine Zusammenarbeit von fast 2000 Jahren Dauer, in deren Verlauf wir Juden an die Welt im allgemeinen und an die Päpste im besonderen zahllose Appelle gerichtet hatten, uns die Schuld an der Kreuzigung Christi nicht zuzuschreiben oder zumindest zu begründen, warum an einem so lange zurückliegenden Ereignis die heutigen Juden schuld sein sollten. Die Bürger Israels wollen jedenfalls nichts mehr davon wissen und der gesegnete Papst Johannes Paul II glücklicherweise auch nicht. Unsere neue, von historischen Emotionen unbelastete Einstellung zeigte sich unter anderem darin, daß das erfolgreiche religiöse Musical »Jesus Christ Superstar« in unserem Land verfilmt werden konnte, mit offizieller Unterstützung durch die israelischen Behörden und unter Mitwirkung einer Reihe israelischer Schauspieler. Das ist um so bemerkenswerter, als dieses musikalische Passionsspiel, eine Mischung aus dem Reich Gottes mit den Rolling Stones, auf jüdische Hühneraugen tritt. Sonst wäre es ja auch unmöglich, den Auszug aus Ägypten zu inszenieren, ohne die heutigen Nachkommen Pharaos zu verletzen.
Aber das ist eben der große Segen für einen Bürger des jüdischen Staates, daß er sich, anders als sein Vater und seine Onkel, mit Vergnügen zu seiner jüdischen Vergangenheit bekennen kann.
Schon möglich, daß unsere alten Priester nicht damit einverstanden waren, was dieser großartige junge Rabbi aus Nazareth damals gepredigt hat. Es ist auch möglich, daß sie ihn für einen gefährlichen Revoluzzer hielten und den römischen Gouverneur gegen ihn aufhetzten. Aber das blieb letzten Endes doch alles in unserer Familie.
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Ich nehme jedoch gern die Schuld auf mich, wenn man die anderen Juden dann endlich in Ruhe läßt.
Es wäre an der Zeit, daß auch die übrige Welt diesen Standpunkt einnimmt. Und das schöne Weihnachtsfest wäre vielleicht eine gute Gelegenheit für die Menschheit, sich darüber klarzuwerden, daß Jesus und alle seine Schüler und Propheten Juden waren wie ich.
Ich bin stolz darauf, jenem kleinen, hartnäckigen Volk anzugehören, das der Menschheit immerhin Christus geschenkt hat. Vielleicht haben wir also doch einen kleinen Anteil am Weihnachtsfest. Zumindest dürfen wir darauf hinweisen, daß Jesus in eine redliche Handwerkerfamilie auf dem Boden des damaligen jüdischen Staates hineingeboren wurde, mag es manchen Leuten auch unangenehm sein, dieses folgenschwere Ereignis auf eine so
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