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Der Blaumilchkanal

Der Blaumilchkanal

Titel: Der Blaumilchkanal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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Kinder.
    Ingenieur Glück gab in einer schwachen Minute zu, er hätte regelmäßig drei Tage vor Purim schwere Anfälle von Melancholie. Wenn keiner ihm zusähe, ließe er sogar seinen Tränen freien Lauf. Seiner Frau hingegen passiere das nicht, sie begibt sich noch vor dem Fest in fachärztliche Kontrolle.
    »Wir sind ein merkwürdiges Volk«, meinte ein als König verkleideter Verkehrspolizist. »Wenn wir uns freuen sollen, sind wir traurig, und wenn wir traurig sein sollen, sind wir aufgeräumt. So sind wir eben, verdammt noch mal.«
    Das leuchtete uns ein. Ein Friedensrichter gestand, er werde vor dem Trauerfest Jom Kippur von unbezwingbarer Heiterkeit befallen. Dagegen wird berichtet, dass sogar die Chassidim, deren Religion sie zu Lebensfreude verpflichtet, am Purimfest für 48 Stunden ihre gewohnte Fröhlichkeit unterbrechen. Das soll natürlich nicht heißen, daß hier nicht hin und wieder Freude aufkommt. Aber sie ist nicht echt. Vielleicht ist sie sogar echt, aber keine Freude.
*
    Dieses Jahr aber war Purim wieder einmal so richtig heiter. Ich verkleidete mich als Streifenpolizist und die Beste als ägyptische Bauchtänzerin mit schwarzem Mini. Wir tanzten Twist und Menuett, und danach sprang Judy Glück auf den Tisch. Mitten in ihrem hemmungslosen Chachacha schluchzte sie jedoch auf:
    »Ich kann nicht mehr«, stöhnte die arme Frau, »ich kann einfach nicht mehr.«
    Es tat mir in der Seele weh, und ich streichelte beruhigend die Netzstrümpfe der Besten. »Liebste«, fragte ich meine Frau, »empfindest du Freude?«
    »Kann schon sein, aber ist sie auch echt?«
    Schwer zu sagen. Warten wir ab, wie die nächsten Purimpartys ausfallen. Wenn sie genauso danebengehen, dann sollten wir endlich die Konsequenzen ziehen und Purim zum Volkstrauertag erklären.

    Wie gesagt, Purim ist ein Fest für Kinder, weil sie noch richtig fröhlich sein können. Sie haben den Tag für sich vereinnahmt und feiern ihn in den Straßen ungeheurem Krach. Überhaupt können die Kinder zu Purim machen, was sie wollen, sie verkleiden sich als Erwachsene, manchmal auch als Piraten oder Astronauten, aber meistens als Verkehrspolizisten.
    Sonderwünsche benötigen jedoch eine Sonderbehandlung.

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GÖTTIN IN WEISS ODER DR. WEISSBERGER KOMMT GEGEN MITTAG
    Ephraim«, sagte meine Schwiegertochter, »dein Enkel ist sauer.«
    Die Vorbereitungen für die Purimfeier befanden sich auf ihrem Höhepunkt. Der gesamte Kindergarten zog in einer ordentlichen Formation aus Piraten und Polizisten an unserem Haus vorbei, nur unser kleiner Rudi zog einen Fluntsch und sah zornig auf sein herrliches Kostüm, das seine Mami ihm in mühevoller Handarbeit angefertigt hatte, Hosen mit Fransen, Gummistiefel, ein breitkrempiger Hut, der Gürtel mit der goldenen Schnalle und als Höhepunkt das verdammte Schießeisen. Die perfekte Ausrüstung eines waschechten Cowboys lag verschmäht in einer Ecke des Zimmers, und unser kleiner John Wayne wurde von Minute zu Minute grantiger.
    »Was ist denn los«, erkundigten wir uns, »willst du denn kein Cowboy sein?«
    »Nein«, schluchzte Rudi los, »will Steffi Graf sein.«
    Unser Kleiner hatte, wie wir alle, am Bildschirm die Siegesserie Steffis mitverfolgt und war tief beeindruckt gewesen.
    »Nicht weinen«, die gesamte Familie stand um den Kleinen herum. »Mal sehen, was sich da machen läßt.«
    »Ganz genau«, mischte sich nun auch die Beste ein »wir werden bestimmt eine Lösung finden.«
*
    Wir beriefen den Familienrat ein und gelangten zu der Einsicht, daß Rudis Reaktion eigentlich ganz normal ist. Wer mochte heutzutage nicht Steffi Graf sein, Superstar, GrandSlam-Siegerin, Pokalsammlerin. Wir einigten uns auf einen Kompromiß.
    »Dieses Jahr gehst du als Cowboy«, schlugen wir Rudi vor, »und nächstes Jahr dann als Steffi Graf.«
    »Nein«, brüllte das aufgeweckte Kind. »Jetzt! Sofort Steffi!«
    Die medizinische Diagnose lautet in so einem Fall, wenn ich mich nicht täusche, auf Hypertrophie, auch Tobsuchtsanfall genannt.
    »Gut«, wir gaben schweren Herzens nach, »du gehst als Tennismeisterin. Wir setzen dir einen großen Topf auf und schreiben mit roter Farbe drauf: Ich bin Steffi.«
    »Das ist pfui«, Rudi steigerte die Frequenz, »das ist nicht Steffi!«
    »Ja, was ist denn Steffi?«
    »Weiß ich nicht«, schluchzte das arme Kind, »das müßt doch ihr wissen...«
    Warum konnte die Australian-Open-Übertragung denn um Himmels willen nicht erst nach Purim gesendet werden? Kann

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