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Der bleiche König: Roman (German Edition)

Der bleiche König: Roman (German Edition)

Titel: Der bleiche König: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Foster Wallace
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befristet. Ich weiß, dass er aus dem Hinterland von Indiana kam, sich eifernd bei einer Uni-Organisation namens »Campus für Christus« engagierte und unzählige Stoffhosen, blaue Blazer und Topsider-Schuhe besaß sowie ein Lächeln, das immer wie angeknipst wirkte. Er hatte eine gleichermaßen evangelikale Freundin oder platonische Bekannte, die oft vorbeikam – also praktisch bei uns wohnte –, und ich erinnere mich klar und deutlich an eine Gelegenheit, wo wir zu dritt in der Gemeinschaftszone saßen, die in der Nomenklatur dieser Wohnheime »Sozialraum« genannt wurde, wo ich oft, gern allein und lieber als in meinem winzigen Schlafzimmer, auf dem weichen alten Vinylsofa des dritten Mitbewohners saß und las oder mich unter Obetrol verdoppelte, manchmal auch mit meinem kleinen Messingkawumm kiffte und fernsah, was immer zwangsläufig Streit mit dem Christen auslöste, der den Sozialraum am liebsten als christliches Klubhaus ansah, seine Freundin und die ganzen anderen bigotten Bibelhühner einlud, Fresca zu trinken und über Angelegenheiten von Campus für Christus oder die Erfüllung der Prophezeiungen in der Offenbarung zu kongregieren usw. usf., der mir gern die Daumenschrauben anlegte und mich daran erinnerte, das sei »der Sozialraum«, wenn ich fragte, ob sie alle nicht dringend rausgehen und irgendwo irgendwelche furchterregenden Flugblätter verteilen müssten. Im Nachhinein ist mir klar, dass es einfach Spaß machte, den Christen zu verachten, weil ich so tun konnte, als wären die Blasiertheit und Selbstgerechtigkeit der Evangelikalen die einzige wahre Antithese oder Alternative zu der zynischen, nihilistischen Kaputtnikeinstellung, die ich zunehmend kultivierte. Als gäbe es nichts zwischen diesen beiden Extremen – wovon die evangelikalen Christen ironischerweise natürlich gleichermaßen überzeugt waren. Was bedeutete, dass ich dem Christen viel ähnlicher war, als wir beide jemals zugegeben hätten. Mit gerade mal neunzehn hab ich das alles natürlich keine Spur durchschaut. Damals wusste ich bloß, ich verachtete den Christen, nannte ihn gern »Strahlemann« und meckerte über ihn gegenüber unserem dritten Mitbewohner, der, wenn er nicht in seinen Seminaren saß, in einer Rockband spielte und sich in der Wohnung sowieso kaum je blicken ließ, sodass der Christ und ich uns nach Herzenslust veräppeln, hänseln und ablehnen sowie unsere jeweiligen blasierten Vorurteile bestätigen konnten.
    Einmal saßen der christliche Mitbewohner, seine Freundin – die genau genommen auch seine Verlobte gewesen sein mag – und ich jedenfalls alle drei im Sozialraum der Wohnung, und aus irgendeinem Grund – wahrscheinlich unaufgefordert – fühlte sich die Freundin bemüßigt, mir zu erzählen, wie sie »errettet« und als Christin »wiedergeboren« worden war. Ich kann mich praktisch nicht mehr an sie erinnern und weiß nur noch, dass sie spitz zulaufende und mit Blumen dekorierte Cowboy-Lederstiefel trug – keine stilisierten Blumen oder isolierte Floralmuster wohlgemerkt, sondern eine reichhaltige, detaillierte, fotorealistische Szene einer voll erblühten Wiese oder eines Gartens, sodass die Stiefel schon an einen Kalender oder eine Glückwunschkarte erinnerten. Das Zeugnis, das sie ablegte, bezog sich, soweit ich mich heute noch daran erinnern kann, auf einen bestimmten Tag, der einen unbestimmten Zeitraum zurücklag, einen Tag, an dem sie sich, wie sie sagte, völlig einsam und verlassen gefühlt hatte und am Ende ihrer Kräfte und ziellos durch die psychologische Wüste der Dekadenz und des Materialismus unserer jüngeren Generation gestreift sei, rhabarber rhabarber. Eifernde Christen waren im retrospektiven Selbstverständnis – das sie dann verallgemeinernd auf alle Menschen außerhalb ihrer Sekte übertrugen – immer verlassen und hoffnungslos, nahezu bar aller inneren Werte oder Gründe, weiterzuleben, bevor sie dann »errettet« wurden. Und sie fuhr an jenem bewussten Tag also auf einer Landstraße außerhalb ihrer Heimatstadt entlang, fuhr im AMC Pacer ihrer Eltern ziellos durch die Gegend, bis sie aus irgendeinem Grund, der ihr selbst gar nicht bewusst wurde, plötzlich auf einen Parkplatz abbog, der, wie sich herausstellte, zu einer evangelikalen Kirche gehörte, in der rein zufällig gerade ein evangelikaler Gottesdienst stattfand, und sie ging – erneut ohne jeden ersichtlichen Grund oder ein Motiv, wie sie behauptete – ziellos hinein und setzte sich ganz hinten auf einen der

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