Der bleiche König: Roman (German Edition)
vielleicht so kantig aussah, weil er wirklich aus Flanell bestand, und seine blank geputzten Halbschuhe blendeten förmlich, wenn das Licht der Neonröhren an der Decke sie im richtigen Winkel traf. Er wirkte wendig und präzis; seine Bewegungen hatten die abgezirkelte Forschheit eines Manns, für den Zeit ein kostbares Gut ist. Meinen Fehler erkannte ich auch, als ich nicht mehr über die Federalist Papers nachdachte und merkte, dass die Studenten in diesem Seminarraum eine ganz andere Atmosphäre verbreiteten. Etliche trugen Krawatten unter Pullundern, und von diesen hatten einige sogar Argylemuster. Jeder einzelne Schuh, den ich sehen konnte, war ein schwarzer oder dunkelbrauner Lederhalbschuh mit anständig geknoteten Schnürsenkeln. Bis heute kann ich mir nicht erklären, warum ich ins falsche Gebäude gegangen bin. Ich bin eigentlich kein Mensch, der sich so leicht verläuft, und ich kannte Garnier Hall, schließlich hatte ich dort auch die Einführung ins Rechnungswesen gehört. Aber um das noch einmal zusammenzufassen: An jenem Tag war ich irgendwie zu Garnier Hall 311 gegangen statt zu meinem Seminar in Verfassungsgeschichte im gleich aussehenden Raum Daniel Hall 311 auf der anderen Seite der Passerelle und hatte mich ganz hinten an die Längswand des Raums gesetzt, von wo aus ich, als ich aus meiner Versunkenheit aufwachte und meinen Fehler bemerkte, jede Menge Störungen und Aktentaschen- und Daunenjackenaufheben verursacht hätte, wenn ich den Saal verlassen hätte – als der Ersatzdozent hereinkam, war der Raum bis auf den letzten Platz gefüllt. Später erfuhr ich, dass einige der ganz klar ernsthaften und am erwachsensten wirkenden Studenten, die tatsächlich Aktenkoffer und Akkordeonordner statt Rucksäcken dabeihatten, Graduierte aus dem Aufbaustudiengang Wirtschaftswissenschaften der DePaul waren – so anspruchsvoll war Steuerprüfung II . Eigentlich war das ganze Rechnungswesen an der DePaul eine ernsthafte und schwere Angelegenheit – Rechnungswesen und Betriebswirtschaft waren institutionelle Stärken, für die die DePaul bekannt war und auf deren Anpreisung in Broschüren und Werbedrucksachen viel Zeit verwendet wurde. Natürlich hatte ich mich nicht deswegen wieder an der DePaul eingeschrieben – ich brachte praktisch null Interesse am Rechnungswesen mit, außer, wie gesagt, um meinem Vater etwas zu beweisen oder bei ihm etwas wiedergutzumachen, indem ich endlich die Einführung ins Rechnungswesen bestand. Das Studienfach Rechnungswesen erwies sich aber als so leistungsstark und respektiert, dass fast die Hälfte der in jenem Seminarraum sitzenden Hörer von Steuerprüfung II sich schon für die CPA-Prüfung im Februar 1979 angemeldet hatten, obwohl mir damals nicht klar war, was es mit dieser Prüfung zum diplomierten Wirtschaftsprüfer eigentlich auf sich hatte oder dass die Vorbereitung monatelanges Studieren und Büffeln erforderte. Später erfuhr ich beispielsweise, dass die Abschlussprüfung in Steuerprüfung II schon als Mikrokosmos einiger Besteuerungsabschnitte der CPA -Prüfung entworfen war. Mein Vater besaß übrigens ein CPA -Diplom, obwohl er in seinem Job bei der Stadt nur selten davon Gebrauch machte. Im Rückblick jedoch und im Licht all dessen, was jener Tag zur Folge hatte, bin ich nicht einmal sicher, ob ich den Raum verlassen hätte, wenn die Logistik des Aufbruchs nicht so umständlich gewesen wäre – nicht nach dem Eintreten des Ersatzdozenten. Obwohl ich das Repetitorium für die Abschlussprüfung in Amerikanischer Verfassungsgeschichte dringend brauchte, wäre ich vielleicht geblieben. Ich weiß gar nicht, ob ich das erklären kann. Ich erinnere mich, dass der Dozent voller Schwung hereinkam und Mantel und Hut an einen Haken der Fahnenstange in der Ecke hängte. Bis zum heutigen Tage bin ich mir nicht hundertprozentig sicher, ob es nicht eine weitere unbewusste Verantwortungslosigkeit meinerseits war, unmittelbar vor den Abschlussprüfungen in Raum 311 des falschen Gebäudes gestolpert zu sein. Aber solche plötzlichen und dramatischen Erfahrungen kann man so nicht analysieren – schon gar nicht im Nachhinein, was ohnehin knifflig ist (aber beim Wortwechsel mit der Christin in den Stiefeln war mir das alles natürlich überhaupt noch nicht klar gewesen).
Damals wusste ich nicht, wie alt der Ersatzdozent war – ich erfuhr, wie gesagt, erst später, dass er für den eigentlichen Jesuitenpater des Seminars, dem niemand eine Träne nachweinte, eingesprungen war –
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