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Der bleiche König: Roman (German Edition)

Der bleiche König: Roman (German Edition)

Titel: Der bleiche König: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Foster Wallace
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vornehmen theatermäßigen Polstersitze, den diese Kirchen immer anstatt der Holzbänke haben, und genau als sie sich setzte, sagte der Prediger oder Pater oder wie deren Geistlichen auch heißen mögen: »Unter uns in der Gemeinde ist heute jemand, der sich verlassen, hoffnungslos und am Ende seiner Kräfte fühlt, und der soll wissen, dass Jesus ihn sehr liebt«, und dann bezeugte die Freundin – im Sozialraum, wo sie ihre Geschichte erzählte –, wie fassungslos und tief bewegt sie gewesen sei, und sie sagte, sie habe sogleich gespürt, wie sich in ihr eine umfassende und dramatische spirituelle Wandlung vollzog, und sie habe sich rückhaltlos getröstet und bedingungslos angenommen und geliebt gefühlt, und ihr Leben hätte plötzlich wieder einen Sinn und ein Ziel gefunden, rhabarber, rhabarber, und seither hätte sie nicht einen einzigen kaputten oder leeren Augenblick mehr erlebt, also seit der Pastor oder Vater oder so sich da verbal an all den anderen evangelikalen Christen vorbeigedrückt habe, die da gesessen und sich mit kostenlosen Fächern mit aufgedruckter professioneller Vierfarbwerbung für die Kirche Luft zugefächelt hätten, auf sie zugekommen sei und sich direkt an die Freundin und die Umstände ihrer tiefsten spirituellen Not gewendet habe. Sie beschrieb sich selbst wie ein Auto mit Ventilschaden und Kolbenfresser. Im Rückblick zeigen sich da natürlich gewisse Parallelen zu meinem eigenen Fall, aber damals bestand meine einzige echte Reaktion darin, dass ich mich genervt fühlte – die beiden nervten mich einfach wie Sau, und ich kann mich nicht an die Umstände erinnern, die mich an jenem Tag dazu gebracht haben, zu bleiben und mich mit ihnen zu unterhalten –, und ich weiß noch, dass ich mich aufspielte, mir die Wange mit der Zunge ausbeulte, der Freundin in den Stiefeln einen trockenen, sarkastischen Blick zuwarf und sie fragte, wie sie eigentlich darauf komme, der evangelikale Pastor hätte sie persönlich gemeint und sie direkt angesprochen, denn wahrscheinlich hätten sich doch alle, die da in der Kirche saßen, genauso gefühlt wie sie, da sich heute (also damals; am Ende des Vietnamkriegs und nach Watergate) doch so gut wie jeder Vollblutamerikaner trostlos, desillusioniert, unmotiviert, ziellos und verloren vorgekommen sei, und wenn der Prediger oder Pater dann sagte »Jemand unter uns ist verlassen und hoffnungslos«, dann liefe das auf das Gleiche hinaus wie die Horoskope in der Sun-Times , die absichtlich so allgemein und sinnfällig geschrieben würden, dass sie jeder Horoskopleserin (wie beispielsweise Joyce allmorgendlich über ihrem Gemüsesaft, den sie sich mit einem speziellen Küchengerät zubereitete) das gespenstische Gefühl spezieller Eigentümlichkeit und Erkenntnis verschafften, wobei sie sich nur die psychologische Binsenweisheit zunutze machten, dass die meisten Menschen dermaßen narzisstisch und anfällig für die Illusion sind, sie und ihre Probleme seien etwas Einmaliges und Besonderes, dass sie, wenn sie ein spezielles Gefühl hätten, dann garantiert der einzige Mensch mit diesem Gefühl wären. Anders gesagt, ich tat nur so, als stellte ich ihr eine Frage – in Wirklichkeit hielt ich der Freundin einen herablassenden kleinen Vortrag über den Narzissmus der Menschen und ihre Illusion der Einzigartigkeit, so wie der fette Unternehmer bei Dickens oder Ragged Dick , der sich bei einem üppigen Abendessen zurücklehnt, die Hände vor dem Wanst faltet und sich nicht vorstellen kann, dass auf der ganzen weiten Welt in diesem Augenblick irgendjemand Hunger leidet. Ich weiß auch noch, dass die Freundin des Christen eine große Frau mit kupferroten Haaren war, bei der mit dem einen Eckzahn etwas nicht stimmte, der stand nämlich ein Stück vor dem Schneidezahn, was mich irritierte, als sie mich in der Unterhaltung an jenem Tag breit und blasiert anlächelte und sagte, also sie finde ja nicht, dass mein zynischer Vergleich ihre existenzielle Christuserfahrung und deren Folgen für ihre innere Wiedergeburt an jenem Tag auch nur im geringsten widerlege oder annulliere. Vielleicht hat sie an diesem Punkt den Christen angesehen und eine Bestätigung oder ein »Amen« oder so von ihm erwartet – ich kann mich nicht erinnern, was der Christ während des ganzen Wortwechsels gemacht hat. Ich erinnere mich aber sehr wohl, dass ich ihr breites, übertriebenes Lächeln erwiderte, »Was soll’s?« sagte und insgeheim dachte, ein Streit mit ihr wäre Zeitverschwendung und

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