Der bleiche König: Roman (German Edition)
warum ich überhaupt mit ihnen diskutierte und dass Strahlemann und sie einander verdient hätten –, und ich weiß auch noch, dass ich sie kurz darauf im Sozialraum habe sitzen lassen und gegangen bin, wobei ich über das ganze Gespräch nachdachte und mich irgendwie verlassen und einsam fühlte, aber auch getröstet, weil ich diesen christlichen Landeiern mit ihrem Narzissmus überlegen war. Und ich erinnere mich auch noch, dass ich wenig später mit einem Bier in einem roten Plastikbecher bei einer Party stand und jemandem die Unterhaltung so nacherzählte, dass ich witzig und intelligent dabei wegkam und die Freundin als Einfaltspinsel dastand. Ich weiß, dass ich in den Geschichten oder Anekdoten, die ich den Leuten damals erzählte, eigentlich immer als Held dastand – was mich ähnlich wie die Sache mit der einen Kotelette schaudern lässt, wenn ich heute daran denke.
Ich hab sowieso den Eindruck, das alles ist eine Ewigkeit her. Aber dass ich mich überhaupt an dieses Gespräch erinnere, liegt, glaube ich, daran, dass hinter der »Errettungsgeschichte« der Christin etwas Wichtiges verborgen lag, das ich damals nicht verstanden habe – und sie und der Christ wohl auch nicht, ehrlich gesagt. Es stimmt, ihre Geschichte war dämlich und verlogen, aber das heißt ja nicht, dass ihre Erfahrung in der Kirche an dem Tag nicht stattgefunden oder dass sie keine ernst zu nehmenden Folgen für sie gehabt hätte. Ich kann das nicht besonders gut auf den Begriff bringen, aber was ihre kleine Geschichte anging, hatte ich gleichzeitig recht und unrecht. Ich glaube, in Wahrheit kann man große, plötzliche, dramatische, unerwartete und das Leben ändernde Erfahrungen anderen Menschen wahrscheinlich gar nicht übersetzen oder erklären, und zwar gerade weil sie einzigartig und eigentümlich sind – wenn auch nicht so einzigartig, wie die Christin glaubte. Das liegt daran, dass ihre Macht nicht bloß die Folge der Erfahrung selbst ist, sondern auch der Umstände, unter denen man sie macht, und weil die gesamte frühere Lebenserfahrung dazu beiträgt, die einen zu dem gemacht hat, der und das man in dem Moment ist, wo sie einem zustößt. Ist das irgendwie nachvollziehbar? Es ist schwer zu erklären. Was das Mädchen mit der Wiese auf den Stiefeln aus ihrer Geschichte ausgelassen hatte, war die Erklärung, warum sie sich in jenem Augenblick gerade so einsam und verlassen gefühlt hatte und psychologisch daher so »präpariert« war, die allgemein und anonym gehaltenen Bemerkungen des Pastors auf sich zu beziehen. Halten wir ihr zugute, dass sie sich an die Gründe vielleicht nicht erinnern konnte. Aber trotzdem, was sie wirklich erzählte, war nur der dramatische Höhepunkt ihrer Anekdote, und das waren die Bemerkung des Predigers und die plötzlichen inneren Veränderungen, die sie daraufhin spürte, und das ist ein bisschen, als würde man nur die Pointe eines Witzes erzählen und erwarten, dass der Hörer lacht. Oder wie Chris Acquistipace sagen würde, ihre Geschichte bestand nur aus Daten, aber der Zusammenhang fehlte. Andererseits ist es natürlich auch gut möglich, dass die 24.456 Wörter, aus denen diese Lebensgeschichte bisher besteht, außer mir auch niemandem relevant oder auch nur verständlich vorkommen – und dann wäre das so ähnlich wie beim Versuch der Christin, zu erklären, wie sie zu ihrer Sichtweise gekommen war, wenn man davon ausgeht, dass sie ihre dramatischen inneren Veränderungen überhaupt ehrlich wiedergab. Es ist schließlich leicht, sich etwas vorzumachen.
Wie ich jedenfalls schon gesagt habe: Dass ich zum Service ging, wurde entscheidend dadurch beeinflusst, dass ich im Dezember 1978 an der DePaul im falschen, aber identisch aussehenden Seminarraum landete, weil ich so versunken darin gewesen war, mich auf das Repetitorium über die Federalist Papers zu konzentrieren, dass mein Irrtum mir überhaupt erst aufging, als der Prof hereinkam. Ich wusste nicht, ob das der echte furchtbare Jesuit war oder nicht. Ich fand erst später heraus, dass er nicht der reguläre Dozent für Steuerprüfung II war – der normale Jesuitenprof des Seminars war anscheinend aus privaten Gründen verhindert, und deshalb war der hier für die beiden letzten Semesterwochen als Ersatz eingesprungen. Daher die anfängliche Verwirrung. Ich erinnere mich noch, dass ich dachte, für einen Jesuiten trüge der Prof aber sehr zivile Klamotten. Er hatte einen vorsintflutlich konservativen dunkelgrauen Anzug an, der
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