Der bleiche König: Roman (German Edition)
drüber. Das ist hier eine unendlich langweilige Fahrt, wir haben nichts Besseres zu tun, wir sitzen in dieser Luschenkutsche fest – brechen wir also unsere Verkrustungen auf. Diskutieren wir es aus.«
»Was denn für Verkrustungen?«
»Einfach woran du denkst. Überleg mal. Das ist eine total innerliche Zeit. Eine der wenigen Situationen im Leben, wo man echt autark ist. Man braucht kein Außen. Man bereitet sich ausschließlich mit den eigenen Gedanken Lust. Diese Gedanken sagen viel über einen aus: wovon man träumt, wenn man seine Träume selber wählen und kontrollieren kann.«
»...«
»...«
»Titten.«
»Titten?«
»Du hast gefragt. Jetzt weißt du’s.«
»Das ist alles? Titten?«
»Was soll ich denn sonst sagen?«
»Nichts als Titten? In völliger Isolation? Nur abstrakte Titten?«
»Ach, leck mich doch.«
»Du meinst, die schweben da einfach so, zwei Titten, im leeren Raum? Oder schmiegen sie sich in deine Hände? Sind es immer dieselben Titten?«
»Das soll mir eine Lehre sein. Du stellst mir eine solche Frage, ich sag mir scheiß drauf und beantworte sie, und für die Antwort krieg ich prompt ein DIF -Verfahren an den Hals.«
»Titten.«
»...«
»...«
»Ja, woran denkst du denn, Mr Verkrustungen?«
§ 4
Aus dem Peoria Journal Star
Montag, 17. November 1980, S. C-2:
IRS-ANGESTELLTER VIER TAGE TOT
Abteilungsleiter im regionalen IRS-Komplex in der Gemeinde Lake James versuchen herauszufinden, warum niemandem auffiel, dass ein Mitarbeiter vier Tage lang tot an seinem Schreibtisch saß, bevor sich jemand erkundigte, ob ihm etwas fehle.
Frederick Blumquist (53), der seit über dreißig Jahren als Steuerprüfer für die Behörde gearbeitet hatte, erlitt einen Herzinfarkt im Großraumbüro, das er sich mit fünfundzwanzig Kollegen im Regionalprüfzentrum der Behörde am Self-Storage Parkway teilte. Am vergangenen Dienstag verschied er still an seinem Schreibtisch, was aber erst am vergangenen Samstagabend auffiel, als ein Raumpfleger ihn fragte, wie er denn arbeiten könne, wenn das Licht in seinem Büro ausgeschaltet sei.
Scott Thomas, Mr Blumquists Vorgesetzter, sagte: »Frederick kam morgens immer als Erster und ging abends als Letzter. Er arbeitete sehr konzentriert und gewissenhaft, von daher fand es niemand ungewöhnlich, dass er die ganze Zeit in derselben Position dasaß und kein Wort sagte. Er war immer ganz in seine Arbeit vertieft und blieb für sich.«
Eine Obduktion durch die Gerichtsmedizin von Tazewell County ergab gestern, dass Blumquist bereits vier Tage lang tot gewesen war und einen Herzinfarkt erlitten hatte. Thomas zufolge gehörte Blumquist zur Zeit seines Todes ironischerweise einer speziellen Arbeitsgruppe von IRS-Wirtschaftsprüfern an, die die Steuerangelegenheiten ärztlicher Partnerschaften in der Gegend untersuchte.
§ 5
Das ist dieser Junge, der die grell orangefarbene Schärpe anlegt und die Kinder aus den unteren Klassen über den Zebrastreifen vor der Schule lotst. Nachdem er für Essen auf Rädern seine Frühstückstour durch das Seniorenstift in der City absolviert hat, dessen Geschäftsführerin sich immer mit einem Hechtsprung in ihr Büro rettet, wenn sie sein Wägelchen durch den Korridor quietschen hört. Die stählerne Trillerpfeife hat er ebenso von seinem Taschengeld bezahlt wie die weißen Handschuhe, deren Handflächen er den Autos entgegenstreckt, während Kinder, die sich nicht allein angezogen haben, hinter ihm die Straße überqueren, manchmal sogar zu rennen versuchen, obwohl er sich eine Plakattafel mit einem Smiley und der Aufschrift GEHEN, NICHT RENNEN ! angefertigt hat. Den Autos, deren Fahrer er kennt, winkt er, schenkt ihnen ein extra breites Lächeln und wirft ihnen aufmunternde Bemerkungen zu, während sich der Zebrastreifen leert, die Autos anfahren und an ihm vorbeibrettern, wobei manche zum Scherz ein bisschen ausscheren und ihn um Haaresbreite verfehlen, und er lacht dann nur, tänzelt beiseite und setzt eine Miene vorgeblichen Erschreckens ob der Kotflügel und hinteren Stoßstangen auf. Das eine Mal, wo ein Kombi ihn nicht verfehlte, war wirklich ein Unfall, und er schrieb der Dame mehrere Briefe und versicherte ihr absolut glaubhaft, dass ihm das klar sei, und er bat alle möglichen Leute, mit denen er sich bislang noch nicht hatte anfreunden können, seinen Gips zu signieren, verzierte die Krücken sorgfältig mit bunten Bändern, Lametta und Glitzerlack, und noch bevor der von den Ärzten mit strengen Mienen
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