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Der bleiche König: Roman (German Edition)

Der bleiche König: Roman (German Edition)

Titel: Der bleiche König: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Foster Wallace
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ist; dass das Leid vielerlei Gestalt hat; dass man keinem je wieder so viel bedeuten wird wie der Mutter; dass des Menschen Herz ein Klops ist.
    Ich erkannte, dass die heutige Menschenwelt eine Bürokratie ist. Das ist natürlich eine Binsenweisheit, aber wenn man sie ignoriert, verursacht das großes Leid.
    Darüber hinaus entdeckte ich aber auf die einzige Weise, auf die der Mensch überhaupt je etwas von Bedeutung lernt, das wahre Geschick, dessen es bedarf, um in einer Bürokratie Erfolg zu haben. Ich meine echten Erfolg: Gutes tun, etwas bewirken, dienen. Ich entdeckte den Schlüssel. Dieser Schlüssel besteht nicht aus Effizienz, Redlichkeit, Einsicht oder Weisheit. Es geht auch nicht um politische Gerissenheit, besondere Fähigkeiten im zwischenmenschlichen Bereich, bloßen IQ , Loyalität, Visionen oder andere Eigenschaften, die die bürokratische Welt Tugenden nennt und auf die sie einen untersucht. Der Schlüssel ist eine bestimmte Fähigkeit, die allen diesen Eigenschaften vorausgeht, ungefähr so wie die Fähigkeit, zu atmen und Blut zu pumpen, allem Denken und Handeln vorausgeht.
    Der Schlüssel, der der Bürokratie vorausgeht, ist die Fähigkeit, Langeweile auszuhalten. Effizient in einem Milieu zu funktionieren, das alles Vitale und Menschliche ausschließt. Gewissermaßen ohne Luft zu atmen.
    Der Schlüssel ist die Fähigkeit, ob angeboren oder erworben, die andere Seite der Routine zu finden, des Nichtigen, des Bedeutungslosen, des Repetitiven, des sinnlos Komplexen. In einem Wort, unlangweilbar zu sein. In den Jahren 1984 und ’85 bin ich zwei solchen Männern begegnet.
    Das ist der Schlüssel zum modernen Leben. Wenn man gegen Langeweile immun ist, gibt es buchstäblich nichts, was man nicht erreichen kann.

§ 45
    Tonis Mom war ein bisschen durchgeknallt wie zuvor schon deren Mutter, eine verschrobene Einsiedlerin, die in dem Radkappenhaus in Peoria gewohnt hatte. Tonis Mom hatte im Südwesten der USA mit einer Reihe übler Patrone angebandelt. Der Letzte fuhr sie nach Peoria zurück, wohin zurückzukehren Tonis Mom beschlossen hatte, nachdem ihre vorletzte Beziehung den Bach runtergegangen war. Blablabla. Auf dieser Fahrt war die Mom mehr oder weniger durchgedreht (hatte ihre Pillen nicht mehr genommen), hatte an einer Raststätte den Kleinlaster gestohlen und den Mann stehen lassen.
    Sowohl die Mom als auch die Großmutter hatten zur Katatonie/Katalepsie tendiert, was meines Wissens das Symptom einer bestimmten Schizophrenie ist. Das Mädchen hatte sich seit seiner frühen Kindheit damit vergnügt, diesen Zustand nachzuahmen, bei dem man ganz still sitzen oder liegen musste, den Puls verlangsamte, so flach atmete, dass sich die Brust nicht mehr hob und senkte, und die Augen so lange offen hielt, dass man nur noch alle paar Minuten blinzelte. Das Letzte ist das Schwerste – die Augen fangen an zu brennen, da sie austrocknen. Sehr, sehr schwer, dieses Unbehagen auszuhalten ... aber wenn man es schafft, kann man dem unwillkürlichen Blinzelzwang widerstehen, der einen überkommt, wenn das Brennen und Austrocknen am schlimmsten ist, denn dann fangen die Augen an, sich selbstständig und ohne Blinzeln zu befeuchten. Sie erzeugen eine Art falsche oder Ersatztränen, einfach um sich zu retten. Das weiß fast niemand, denn das unfassbare Unbehagen, die Augen ohne Blinzeln offen zu halten, hält die meisten Menschen davon ab, bevor sie den kritischen Punkt erreichen. Außerdem schädigt es in der Regel die Augen. Das Mädchen hatte es »sich tot stellen« genannt, denn so hatte die Mutter diese Phasen zu beschreiben und abzutun versucht, als das Mädchen noch jung gewesen war; sie hatte gesagt, sie spiele nur, und das Spiel heiße »sich tot stellen«.
    Der stehen gelassene Mann hatte sie irgendwo im Osten von Missouri eingeholt. Sie waren auf einer kleinen Asphaltlandstraße unterwegs gewesen, und das erste Zeichen, dass er hinter ihnen war, waren zwei Scheinwerfer, die auftauchten, als sie gerade eine anderthalb oder mehr Kilometer lange Senke hinabfuhren – die Scheinwerfer tauchten auf, als das Verfolgerfahrzeug die Kuppe erreichte, und verschwanden, als sie wieder bergauf fuhren.
    In Toni Wares Erinnerungen, die sie X nur ein einziges Mal erzählte, und zwar an einem Abend, der sich als Jahrestag der Begebenheit entpuppte, holte das von dem Mann beschlagnahmte oder gemietete Fahrzeug sehr schnell auf – es konnte um einiges schneller fahren als der Kleinlaster mit seinem Campingaufbau –, und

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