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Der bleiche König: Roman (German Edition)

Der bleiche König: Roman (German Edition)

Titel: Der bleiche König: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Foster Wallace
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der Mann fuhr nicht selbst. Er stand auf der Fronthaube der aufliegerlosen Zugmaschine eines riesigen Sattelzugs, vor Wut und Bosheit zu doppelter Größe angeschwollen, reckte den Arm in einer furchterregenden Geste fast alttestamentarischer Vergeltung und brüllte (im ländlichen Sinn von »Brüllen«, das fast schon eine eigene Kunstform ist; früher war das die Methode, wie Menschen, die ohne Blickkontakt in den Hügeln lebten, miteinander kommunizierten – auf diese Weise ließ man die anderen wissen, dass es einen gab, denn sonst hätte es in den abgeschiedenen Hügeln den Anschein gehabt, man wäre der Einzige im Umkreis von Tausenden von Kilometern) in rasendem schwarzem üblem Zorn und Frohlocken, das Tonis Mutter – die, wie wir uns erinnern, nicht gerade der Inbegriff der Stabilität war – hysterisch werden ließ; sie trat das Gaspedal durch im Versuch, dem anderen davonzufahren, während sie gleichzeitig an das Fläschchen mit ihren vom Arzt verschriebenen Tabletten in der Handtasche heranzukommen versuchte; den kindersicheren Verschluss bekam sie auch sonst kaum auf und überließ das meist Toni, und dadurch kam das infolge des LEER -Camping-Aufbaus kopflastige Fahrzeug von der Straße ab, kippte auf einem Feld oder einer buschbestandenen Fläche auf die Seite und verletzte die Mom so schwer, dass sie mit blutüberströmtem Gesicht halb betäubt dalag und stöhnte, während Toni ans Beifahrerfenster gedrückt wurde und heute noch den Abdruck der Fensterkurbel in der Hüfte vorzeigen kann, wenn man sie dazu bewegt, ihr Oberteil hochzuziehen und einem die gespenstische Reproduktion zu zeigen. Das Fahrzeug blieb auf der rechten Seite liegen, und da die Mom nicht angeschnallt gewesen war, das sind solche Leute ja nie, lag sie teilweise auf Toni Ware und presste sie gegen das Fenster, sodass die sich nicht rühren und nicht einmal sagen konnte, ob sie verletzt war. Nur schreckliche Stille herrschte und das Zischen und Ticken eines Fahrzeugs, das gerade einen Unfall gehabt hat, und dann hörte man Sporen, vielleicht aber auch nur das Klimpern von sehr viel Kleingeld, als der Mann den Hang herab auf sie zukam. Tonis Fenster hatte sich in den Boden gebohrt, das Fahrerfenster zeigte zum Himmel, und die Windschutzscheibe, eingedrückt und halb aus der Fassung, hatte sich in einen 1,20 Meter langen lotrechten Schlitz verwandelt, durch den Toni Ware den Mann in Lebensgröße sah, wie er die Knöchel knacken ließ und die Fahrzeuginsassen betrachtete. Toni lag mit offenen Augen da, verlangsamte die Atmung und stellte sich tot. Die Mom hatte die Augen geschlossen, lebte aber, denn man hörte sie atmen, und manchmal stieß sie in ihrem Koma, oder was das war, unbewusste leise Schreie aus. Der Mann warf einen Blick auf Toni und sah ihr dann lange in die Augen – später begriff sie, dass er sich vergewissern wollte, ob sie am Leben war. Wenn jemand einen ins Auge fasst, ist es unvorstellbar schwer, starr geradeaus zu sehen und den Blick doch nicht zu erwidern. (Das hatte die ganze Erzählung ausgelöst; David Wallace oder jemand anders hatte bemerkt, Toni Ware sei unheimlich, weil sie zwar nicht schüchtern oder ausweichend war und Blickkontakte durchaus erwiderte, aber sie schien einem auf die Augen und nicht in die Augen zu sehen; ein bisschen wie ein Fisch, der in einem Aquarium an einem vorbeischwimmt und einem durchs Glas in die Augen schaut – man weiß, dass er einen irgendwie wahrnimmt, aber es ist verstörend, weil das so anders ist, als wenn ein Mensch einen Blick erwidert.)
    Tonis Augen standen weit offen. Es war zu spät, sie zu schließen. Wenn sie das plötzlich machte, wusste der Mann, dass sie am Leben war. Ihre einzige Chance war, tot zu wirken, damit der Mann ihr nicht den Puls prüfte oder ihr ein Stück Glas vor den Mund hielt, um die Atmung zu prüfen. Wenn sie die Augen offen hatte und offen hielt, würde er nichts überprüfen – weil kein lebendes menschliches Wesen die Augen über längere Zeit offen halten konnte. Sonst war niemand da; der Mann hatte jede Menge Zeit, durch die Windschutzscheibe zu schauen und zu kontrollieren, ob sie tot waren. Das Gesicht ihrer Mutter lag direkt an ihrem Gesicht, aber das Blut tropfte zum Glück in eine Kuhle an Tonis Hals; wäre es ihr in die Augen getropft, hätte sie unwillkürlich blinzeln müssen. Sie blieb starr und mit offenen Augen liegen. Der Mann kletterte hoch und rüttelte an der Fahrertür, aber die war von innen verriegelt. Der Mann ging

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