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Der bleiche König: Roman (German Edition)

Der bleiche König: Roman (German Edition)

Titel: Der bleiche König: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Foster Wallace
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Spitznamen Colorado-Todd verschafft hat.«

§ 43
    Am Dienstagmorgen hatte ich einen HNO -Termin und kam erst um 10.05 Uhr zur Arbeit. Der Komplex war noch gedämpfter als sonst. Die Leute sprachen leise und schoben beim Gehen leicht die Schultern vor. Ein paar Frauen, die auf Aufregungen bekanntermaßen reagierten, indem sie blass wurden, waren blass. Alle gingen ihren Beschäftigungen irgendwie in Zeitlupe nach, als reagierten sie auf etwas, wären sich aber bewusst, dass sie reagierten und dass auch alle anderen reagierten. Ich hatte kein Aspirin mehr. Aus unerfindlichen Gründen widerstrebte es mir, mich zu erkundigen, was passiert sei. Ich hasse es, immer der zu sein, der keine Ahnung hat und jemanden fragen muss; alle anderen scheinen immer zu wissen, was los ist. Das markiert eindeutig einen niedrigen Status, und das kann ich nicht ab. Erst nach elf Uhr belauschte ich Trudi Keener, Jane-Ann Heape und Homer Campbell, die im UNIVAC -Raum stapelweise zurückdatierte Steuerschätzungsbelege kollationierten.
    In einer anderen Region hatte es eine Explosion gegeben. In Muskegon oder Holland, beides Dépendancen vom Zehnten. Ein Auto oder Leicht-Lkw war direkt vor dem Bezirksbüro geparkt und später in die Luft gejagt worden. Trudi Keener zitierte George Molesworthy, der gesagt haben sollte, der Posse Comitatus sei in Michigan besonders extremistisch. D. h., auf eine Dienststelle des Service war ein Terroranschlag verübt worden, was einem in jeder wirtschaftsschwachen Agrarregion Schauer über den Rücken jagt. Ich stand im Raum und gab möglichst lange vor, im Dateikatalog etwas zu suchen, ohne dass Jane-Ann Heape merkte, dass ich sie belauschte, und daraus folgerte, dass ich zu der Menschensorte gehörte, die nie etwas mitbekam, und ihr Bild von mir entsprechend neu kalibrierte. Ihr Haar war an dem Tag hochgesteckt und mit komplexen Locken und Wellen zurechtgemacht, die in dem zum blauen Ende des Spektrums hin verschobenen Neonlicht des UNIVAC -Raums noch dunkler wirkten. Sie trug eine blassblaue Azetatbluse und einen Rock, dessen Karomuster so dunkel und kontrastarm war, dass man es kaum als Karomuster erkennen konnte. Die Zahl der Opfer wurde nicht bekannt gegeben, aber ich erfuhr, dass ein paar Angehörige der Revisionskoordinierung von Support Systems zu Beginn ihrer Berufstätigkeit in Michigan stationiert gewesen waren; ich hatte keine Verbindungen zur Revisionskoordinierung der Support Systems und kannte die Namen nicht.
    Als meine Pause begann, roch die Kaffeeküche säuerlich, was bedeutete, dass Mrs Oooley die Kannen und Filter vor ihrem Schichtende am Vorabend nicht abgewaschen hatte. Aber der Raum war eine Goldmine für die Personalabteilung. Mr Glendenning und Gene Rosebury tranken Kaffee aus ihren Service-Gratisbechern (ab GS -13 aufwärts), und Meredith Rand aß einen Becher Joghurt aus dem GS -9-Kühlschrank mit einer Plastikgabel (was bedeutete, dass Ellen Bactrim mal wieder Löffel hortete). Sie unterhielten sich, und Gary Yeagle, James Rumps und noch ein paar andere hielten sich im Hintergrund und hörten zu. Ich stand zwischen den Grüppchen, tat so, als musterte ich die Getränkeautomaten, und zählte Münzgeld in der Hand.
    »Das hier sind keine Terroristen. Das sind Leute, die keine Steuern zahlen wollen«, sagte Gene Rosebury. Er zeigte schwache Spuren seines üblichen Maalox-Schnurrbarts. Das »das hier« zeigte, dass sehr viel Kontext und Informationen schon vorher zur Sprache gekommen waren.
    »Wenn ich mich terrorisiert fühle, ist das dann kein Terrorismus?«, fragte Meredith Rand. Sie entfernte mit dem kleinen Finger Joghurtreste aus dem Mundwinkel. Mir fiel auf, dass niemand lachte, nicht mal die GS-9er. Rands Bemerkung war ein kalorienarmer Geistesblitz, der weniger witzig gemeint war, als dass er den Anwesenden die Möglichkeit geben sollte, zu lachen und so Spannung abzubauen. Niemand nutzte diese Möglichkeit. Das fand ich bezeichnend. Mr Glendenning trug einen hellbraunen Anzug und eine Westernfliege mit einem türkisfarbenen Medaillon am Kreuz. Der RPZ -Direktor war es gewohnt, in jedem Raum den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu bilden, wobei das in seinem Fall nicht exhibitionistisch wirkte, sondern den Eindruck unerschütterlicher Ruhe machte. Ich kannte in der Dienststelle niemanden, der DeWitt Glendenning nicht gemocht und bewundert hätte. Ich war damals schon lange genug beim Service, um zu wissen, dass es für einen erfolgreichen Verwaltungsbeamten sprach, wenn er

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