Der bleiche König: Roman (German Edition)
hinter meiner Entscheidung stehen. Aber wir sehen es doch hier, bei den Steuerzahlern. Wir sind der Staat, seine schlimmste Fratze – der habgierige Gläubiger, der strenge Vater.«
»Sie hassen uns.«
»Sie hassen den Staat – wir sind bloß die praktische Verkörperung dessen, was sie hassen. Um diesen Hass ist es allerdings sehr seltsam bestellt. Der Staat ist das Volk, um’s mal nicht unnötig zu verkomplizieren, aber wir spalten ihn von uns ab und tun so, als wären das nicht wir; wir tun so, als wäre er ein bedrohliches anderes, das ganz scharf darauf ist, uns die Freiheit zu nehmen, unser Geld umzuverteilen, unsere Moralvorstellungen über Drogen, Autofahren, Abtreibung und die Umwelt in Gesetze zu gießen – Big Brother, das Establishment –«
»Der Mensch.«
»Und das Paradoxe ist dabei, dass wir ihn so hassen, weil er anscheinend genau die Staatsbürgerfunktionen an sich reißt, die wir ihm übertragen haben.«
»Was das Verfahren der Gründerväter auf den Kopf stellt, die politische Macht dem Volk und eben nicht dem Staat zu übertragen.«
»Einwilligung der Regierten.«
»Aber es ist darüber hinausgegangen, und die in den Sechzigern entwickelte Idee der Freiheit der Person, des Begehrens und der moralischen Freizügigkeit hängt irgendwie damit zusammen, auch wenn ich daraus noch nicht schlau werde. Nur dass in Bezug auf Bürgersinn und Egoismus in diesem Land irgendwas schiefläuft, und wir hier im Service bekommen es in seinen extremsten Manifestationen zu sehen. Als Bürger, Geschäftsleute, Verbraucher und was nicht alles erwarten wir, dass der Staat und das Gesetz als unser Gewissen agieren.«
»Sind Gesetze vielleicht nicht genau dazu da?«
»Sie meinen unser Über-Ich? An Eltern statt?«
»Es hat mit dem liberalen Individualismus zu tun, damit, dass die Verfassung den Charakter des Einzelnen überschätzt hat, und es hat auch mit dem Konsumkapitalismus zu tun –«
»Das ist ganz schön schwammig.«
»Es ist auch schwammig. Ich bin kein Politologe. Die Konsequenzen sind allerdings nicht schwammig; um die harte Wirklichkeit der Konsequenzen geht es bei unseren Jobs ja gerade.«
»Aber den Service gab es doch schon lange vor den dekadenten Sechzigern.«
»Lassen Sie ihn ausreden.«
»Meiner Meinung nach sind die Amerikaner 1980 verrückt. Einfach verrückt geworden. Irgendwie regrediert.«
»Der Zitat Disziplinmangel und Autoritätsverlust der dekadenten Siebziger.«
»Wenn Sie nicht die Klappe halten, schmeiß ich Sie aufs Dach vom Fahrstuhl, und da können Sie bleiben, bis Sie schwarz werden.«
»Ich weiß, das kann reaktionär klingen. Aber wir spüren das doch alle. Wir haben heute ein verändertes Selbstbild als Bürger. Wir sehen uns nicht mehr als Bürger im alten Sinne, als Rädchen in einem größeren und unendlich bedeutenderen Getriebe, dem gegenüber wir ernsthafte Verantwortung haben. Aber wir sehen uns sehr wohl immer noch als Bürger im Sinne von Nutznießern – wir sind uns sehr bewusst, welche Rechte wir als amerikanische Bürger haben, dass die Nation eine Verantwortung uns gegenüber hat und dass wir unseren Teil vom amerikanischen Kuchen abhaben wollen. Wir sehen uns heute als Kuchenesser statt als Kuchenbäcker. Nur wer backt dann den Kuchen?«
»Frag nicht, was dein Land für dich tun kann ...«
»Unternehmen backen den Kuchen. Sie backen ihn, und wir essen ihn.«
»Es liegt wahrscheinlich an meiner Naivität, dass ich die Sache nicht auf politische Begriffe bringen will, auch wenn sie wahrscheinlich irreduzibel politisch ist. Etwas ist passiert, wo wir auf politischer Ebene entschieden haben, dass es okay ist, wenn wir auf unsere individuelle Verantwortung dem Gemeinwohl gegenüber verzichten und dieses Gemeinwohl dem Staat überlassen, während wir alle unsere Partikularinteressen verwirklichen und uns anstrengen, unsere diversen Gelüste zu befriedigen.«
»Teilweise kann man aber unter Garantie den Unternehmen und der Werbung die Schuld daran geben.«
»In meinem Verständnis sind Unternehmen aber keine Bürger. Unternehmen sind Maschinen zur Profitmaximierung; für diese Funktion sind sie bestens geeignet. Es ist lächerlich, Unternehmen Bürgerpflichten oder moralische Verantwortung zuzuschreiben.«
»Aber das ganze finstere Genie von Unternehmen besteht doch gerade darin, dass sie individuelle Belohnungen ohne individuelle Verpflichtungen erlauben. Arbeiter sind den Managern verpflichtet, Manager dem CEO , der CEO ist dem Aufsichtsrat
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