Der bleiche König: Roman (German Edition)
oder wir zerfallen endgültig. Wie Rom – Eroberer des eigenen Volkes.«
»Ich verstehe, dass sich Steuerzahler nicht von ihrem Geld trennen wollen. Das liegt in der Natur des Menschen. Ich mochte es auch nicht, als die Revisoren kamen. Aber Scheiße, es gibt doch grundlegende Tatsachen, die das ausgleichen – wir haben diese Leute doch gewählt, es war unsere Wahl, hier zu leben, wir wollen gute Straßen und ein schlagkräftiges Militär, das uns verteidigt. Also heißt es blechen.«
»Das ist ein bisschen vereinfacht.«
»Das ist doch wie – mal angenommen, Sie sitzen mit anderen Menschen in einem Rettungsboot und es gibt nicht genug Lebensmittel, und die müssen geteilt werden. Sie reichen nicht, aber alle müssen was abbekommen, und alle haben großen Hunger. Sie wollen natürlich das ganze Essen für sich; Sie sind am Verhungern. Aber allen anderen geht es genauso. Wenn Sie alle Lebensmittel aufessen würden, könnten Sie sich im Spiegel hinterher nicht mehr in die Augen schauen.«
»Außerdem würden die anderen einen umbringen.«
»Ich mein’s aber psychologisch. Natürlich wollen Sie alles für sich, und natürlich wollen Sie jedes selbst verdiente Zehncentstück behalten. Das tun Sie aber nicht, sondern Sie blechen, denn so stehen die Dinge für alle im Rettungsboot. Man hat gewissermaßen eine Pflicht gegenüber den anderen, mit denen man im selben Boot sitzt. Und eine Pflicht sich selbst gegenüber, nicht die Sorte Mensch zu sein, die wartet, bis alle eingeschlafen sind, und dann das ganze Essen aufisst.«
»Sie klingen wie die reine Staatsbürgerkunde.«
»Die Sie garantiert nie gehabt haben. Wie alt sind Sie, achtundzwanzig? Gab es in Ihrer Jugend Staatsbürgerkunde in der Schule? Wissen Sie überhaupt, was das ist?«
»Das war eine Kalter-Krieg-Geschichte, womit man in der Schule angefangen hat. Die Bill of Rights, die Verfassung, das Pledge of Alliance , die Bedeutung des Wählens.«
»Staatsbürgerkunde ist der Zweig der Politologie, der sich Zitat mit der Bürgerschaft und den Rechten und Pflichten von Bürgern der USA befasst.«
» Pflicht ist so ein hartes Wort. Ich sage ja nicht, es ist ihre Pflicht, Steuern zu zahlen. Ich sage nur, es hat keinen Sinn, keine zu zahlen. Außerdem kriegen wir das Geld ja doch.«
»Ich fürchte, Sie wollen kein Gespräch in diese Richtung, aber wenn doch, sag ich Ihnen, wie ich die Sache sehe.«
»Schießen Sie los.«
»Meiner Meinung nach ist es kein Zufall, dass Staatsbürgerkunde nicht mehr unterrichtet wird oder dass ein junger Mann wie Sie aufbraust, wenn er das Wort Pflicht hört.«
»Wir sind verweichlicht, sagen Sie.«
»Ich sage, dass die Sechziger – für die ich Gott danke, weil sie auf vielen Gebieten wie beispielsweise Rasse und Feminismus ein Problembewusstsein geschaffen haben –«
»Ganz zu schweigen von Vietnam.«
»Durchaus nicht zu verschweigen, denn da gab es eine ganze Generation, die mehrheitlich erstmals Autoritäten hinterfragte und laut aussprach, dass ihre persönliche moralische Einschätzung des Krieges schwerer wiegt als die Pflicht, in den Kampf zu ziehen, wenn ihre ordnungsgemäß gewählten Repräsentanten es ihnen befehlen.«
»Mit anderen Worten, die höchste Verpflichtung hat man sich selbst gegenüber.«
»Gut, aber sich selbst als was?«
»Leute, das ist doch alles total vereinfacht. Es ist doch nicht so, dass alle Demonstranten damals aus Pflichtgefühl protestiert hätten. Es war eine Mode, gegen den Krieg zu demonstrieren.«
»Weder das Höchste-Verpflichtung-sich-selbst-gegenüber-Element noch das Mode-Element ist unwichtig.«
»Wollen Sie darauf hinaus, dass die Proteste gegen Vietnam zur Steuerhinterziehung geführt haben?«
»Nein, er sagt, dass sie den Egoismus zur Folge hatten, aus dem heraus wir alle Lebensmittel im Boot für uns haben wollen.«
»Nein, aber ich glaube, das, was dazu führte, dass das Protestieren gegen den Krieg zur Mode wurde, hat dem eine Tür geöffnet, was unser Land zugrunde richten wird. Das Ende des demokratischen Experiments.«
»Hatte ich schon erwähnt, dass er konservativ ist?«
»Damit will er mich bloß schlechtmachen. Es gibt alle möglichen Konservativen, das hängt ganz davon ab, was sie konservieren wollen.«
»In den Sechzigern begann Amerikas Niedergang in Dekadenz und egoistischen Individualismus – die Ich-Generation.«
»In den Zwanzigern gab es aber mehr Dekadenz als in den Sechzigern.«
»Wissen Sie, was? Ich glaube, die Verfassung und die
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