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Der blinde Hellseher

Der blinde Hellseher

Titel: Der blinde Hellseher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Wolf
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Angst werden konnte, und gebaut wie ein
Maulesel. Mit schlampiger Kleidung verstärkte sie den Eindruck noch. Sie trug
eine Brille mit schwarzem Horngestell und enorm dicken Gläsern. Das fast
farblose Haar hing ihr lang und zottelig auf die Schultern, und es sah aus wie
mit der Gartenschere geschnitten.
    Für ihre Unansehnlichkeit
konnte sie natürlich nichts. Das war Pech und eine Gemeinheit der Natur. Aber
nicht jeder, der unansehnlich ist, muß deswegen zur Giftnudel werden. Fräulein
Klamm war uneins mit sich selbst. Ihre Wut darüber ließ sie an den Kindern aus.
Wohlgemerkt: an den Kindern! An den Größeren, den Jugendlichen, nicht. Da
getraute sie sich nicht. Zu denen war sie freundlich und scheinbar umgänglich
auf eine hinterhältige Art. Aber je jünger die Schüler waren, um so schlimmer
wurden sie von ihr drangsaliert. Doch auch dabei machte sie Unterschiede, und
zwar nach den Geschlechtern: Jungs kamen im allgemeinen besser bei ihr weg, Mädchen
nur, wenn sie nicht besonders hübsch waren. Aber wehe, ein Mädchen sah aus wie
Gaby! Da platzte die Klamm vor Neid. Je liebreizender ein Mädchen war, um so
mehr wurde es von der Giftnudel schikaniert. Und Gaby war nun mal — leider!,
muß man in diesem Fall sagen — so bezaubernd, daß sie im Klammschen Unterricht
allerhand auszustehen hatte. In Gemeinschaftskunde, nämlich.
    So gut es ging, versuchte Gaby,
sich darauf einzustellen. Sie lernte fleißig, paßte im Unterricht gut auf und
störte mit keiner Silbe. Daß sie sofort drangenommen wurde, wenn sie sich mal
nicht meldete, und immer mit den schwersten Fragen, fiel mittlerweile jedem
auf.
    Im Gegensatz zu sonst verlief
die heutige Gemeinschaftsstunde einigermaßen friedlich. Die Klamm schien milde
gestimmt, hatte leicht gerötete Wangen und — eine neue Bluse an; was für ihre
Verhältnisse ein unerhörter Fortschritt war.
    Aber gegen Ende der Stunde
passierte es.
    Heinz Bosselt — einer der
unbeliebtesten Schüler der Klasse — wurde vom Teufel geritten. Vielleicht auch,
weil ihn Gaby — auf die er seit einiger Zeit ein Auge geworfen hatte — links
liegen ließ.
    Jedenfalls hatte er heute eine
ziemlich lange Nähnadel mitgebracht. Wie gut man damit stechen konnte,
probierte er an Gaby aus. Das war kein Problem. Da er schräg hinter ihr saß,
konnte er sie bequem erreichen.
    Nur Werner Kaufmann, Bosselts
Nebenmann, beobachtete, wie sich der Junge unter die Bank bückte. Von dort
piekte er Gaby durch ihre Jeans ins Hinterteil — aber mindestens einen halben
Zentimeter tief.
    Wie von der Tarantel gebissen,
fuhr Gaby in die Höhe, quietschte: „Auuuuuhhhh!“ und drehte sich um.
    Bosselt aber saß mit gefalteten
Händen am Platz und machte das harmloseste Gesicht der Welt.
    „Was ist los, Glockner?“ rief
die Klamm von der Tafel her.
    „Ich... weiß nicht. Mich hat
was gestochen?“
    „Gestochen? Was meinst du mit
gestochen?“
    „Ich weiß es wirklich nicht,
Fräulein Klamm.“
    „Lüg’ nicht, du freche Göre! Du
benutzt jede Gelegenheit, um den Unterricht zu stören. Glaubst du, ich merke
das nicht.“
    „Wirklich nicht, Fräulein
Klamm“, verteidigte sich Gaby. „Ich wollte nicht stören. Ich...“
    „Du tust es aber. Und dann bist
du auch noch feige und leugnest.“
    Gaby war den Tränen nahe.
„Das... das stimmt nicht, Fräulein Klamm. Aber ich kann doch nichts dafür, wenn
ich unverhofft gestochen werde und...“

    „Werd’ nicht noch unverschämt!“
ereiferte sich die Klamm. „Deine Durchtriebenheit habe ich längst durchschaut.
Du sitzt da, als könntest du kein Wässerchen trüben. Dann störst du meinen
Unterricht und lenkst deine Mitschüler ab. Aber diesmal hat das Folgen. Diesmal
melde ich dich der Direktion. Länger lasse ich mir das nicht bieten. Diesmal
gibt’s einen Verweis.“
    Gaby schluckte. Sie war
unschuldig wie ein neugeborenes Kind. Ungerechtigkeit tat weh. Gaby schwankte
zwischen Entrüstung und Verzweiflung.
    „Aber wenn mich etwas gestochen
hat, Fräulein Klamm! Sehr schmerzhaft sogar. Bitte, glauben Sie mir doch! Ich
    „Dir glaube ich gar nichts.
Setz’ dich hin! Es bleibt bei der Meldung.“
    Gaby setzte sich. Ihr Mund
zitterte. Sie wollte nicht heulen, aber zornige Hilflosigkeit trieb ihr Tränen
in die Augen.
    Ein Murren lief durch die
Klasse. Gaby war sehr beliebt. Was wirklich geschehen war, hatte zwar — wie
gesagt — nur Werner Kaufmann gesehen. Aber alle spürten, daß hier eine
Ungerechtigkeit vorlag.
    „Ruhe!“ schrie die Klamm.

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