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Der blinde Hellseher

Der blinde Hellseher

Titel: Der blinde Hellseher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Wolf
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das Seil geholt, um durchs Fenster zu türmen.
Himmel, nein! Ich bin so dran gewöhnt, auf diese Weise abends das Haus zu
verlassen... Anders kann ich schon gar nicht mehr — selbst wenn ich offiziell
Ausgang habe.“
    Klößchen prustete los, daß ihm
ein Stück Schokolade aus dem Mund fiel.
    „Stell dir vor, Tarzan: Um zehn
steht der Meinert an der Tür, will dich reinlassen. Aber du bist längst drin.
Und kannst nicht erklären, durch welche Geheimtür du das Haupthaus betreten hast.
Aber... sag’ einfach, Raimondo, der Hellseher, sei auch Magier. Er hätte dich
ins Bett gezaubert.“
    „Tolle Erklärung. Wie spät ist
es eigentlich?“ Tarzan sprang auf.
    Es war zwar erst Viertel vor
sieben, aber Tarzan wollte los, bevor der Regen begann. Noch vertrieb der Sturm
die Wolken, doch die ersten dicken Tropfen klatschten bereits herab.
    Tarzan hatte eine graue
Flanellhose an, weißes Hemd und seine dunkelblaue Cordjacke. Er schlüpfte in
seinen Regenmantel, grapschte blitzschnell Klößchens Schokoladentafel weg — es
war noch über die Hälfte — und warf sie auf den Schrank.
    „Du hast genug!“
    „Unerhört!“ schimpfte Klößchen.
„Wie soll ich die runterholen? Außerdem ist es staubig da oben!“
    „Deine Schuld! Es ist dein
Schrank.“
    „Na, warte! Frösche, Salamander,
Molche und Spinnen werde ich auftreiben. Die findest du heute nacht in deinem
Bett!“
    „Prima! Ich mag Tiere. Also bis
dann!“
    „Pass bloß auf! Daß dir nichts
entgeht!“
    „Kein Pauker dieser Schule,
Willi, wird sich jemals solcher Aufmerksamkeit erfreuen wie Raimondo, der
Seher. Keine Sekunde lasse ich ihn aus den Augen. Und Amanda genau so wenig.“
    Tarzan zog los.
    Als er ins Freie kam, pustete
ihn der Sturm aus voller Lunge an. Sein Mantel blähte sich auf zum Ballon, und
die Hosenbeine zappelten wie närrische Marionetten.
    Das kann eine lustige Fahrt
werden, dachte Tarzan und holte sein Rennrad aus dem Fahrradkeller.
    Aber dann ging’s bequemer als
gedacht, denn der Sturm blies von hinten. Tarzan brauchte fast gar nicht zu
treten. Einige Male mußte er sogar etwas bremsen, um nicht aus der Kurve zu
fliegen. Die Straße war feucht. Grau und trostlos dehnten sich Felder und
Weiden nach allen Seiten in der Dunkelheit aus. Dunst hüllte die Stadt ein.
Tarzan sah kein Licht. Erst als er näher kam, hoben sich die milchigen Höfe der
Lichtpeitschen aus dem Nebel.
    Um 19.20 Uhr hatte Tarzan sein
Ziel erreicht.
    Einige Wagen standen am
Straßenrand vor der Villa. Aber Raimondos dunkle Limousine war nicht dabei.
    Tarzan stieg vom Rad, stellte
es neben der Garage ab und klingelte an der Haustür.
    Suzanne öffnete.
    „Ah, du. Komm’ rein!“
    Heute war sie dezent
geschminkt, aber ganz ohne ging es offenbar nicht. In sahnegelber Bluse und
schwarzer Samthose sah sie sehr attraktiv aus, und die kleinen Goldohrringe
schimmerten im Licht der Dielenbeleuchtung.
    Tarzan hängte den Regenmantel
an die Garderobe und strich über seine dunklen Locken, die sich davon natürlich
nicht bändigen ließen. Er war schon oft hier gewesen und kannte sich aus.
    Aus dem Kaminzimmer drangen
Stimmen, sehr gedämpft, obwohl die Tür offen stand. Alle sprachen leise.
Schließlich war der Anlaß, sich heute abend hier zu treffen, keine Party,
sondern beklemmend und traurig.
    Ein bißchen aufgeregt fühlte
sich Tarzan, als er jetzt von Suzanne hineingeführt wurde.
    Frau Krause stand am Kamin. Sie
trug ein dunkles Kleid. Tarzan erschrak. So bleich hatte er Volkers Mutter noch
nie gesehen. Schatten lagen unter ihren Augen, und das linke Lid zitterte
unentwegt.
    Sie war schlank, hatte eine
etwas zu kurze Oberlippe und benahm sich im allgemeinen affektiert und geziert,
manchmal geradezu hochnäsig. Beim Sprechen verschluckte sie keine Silbe und
keinen Endbuchstaben, und ihre Bewegungen waren immer gemessen und abgezirkelt.
Wie Tarzan von Volker wußte, hatte sie sich in den letzten Monaten kaum noch um
ihren Sohn gekümmert, sondern unentwegt ihre Rolle gespielt: als die
wiedergeborene Editha Eleonora von Brabant.

    Aber davon war jetzt nichts mehr
zu spüren. Die Frau, die dort am Kamin stand, war nur noch eins: Eine
verzweifelte Mutter.
    Herr Krause, der
Bauunternehmer, war ein großer, bulliger Mann mit rotem Gesicht und den Händen
eines Maurerpoliers. Er konnte anziehen, was er wollte: Smoking oder
Golfkleidung — immer sah er aus, als käme er gerade vom Bau.
    Auf die kleine Gruppe anderer
Leute konnte Tarzan im Moment nicht achten. Frau Krause

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