Der blinde Hellseher
aber nur für Sekunden. Dann tanzten
Lichtflecke über die Landschaft und das Wetter sah aus, als könnte es sich
nicht entschließen, was nun werden soll. Trocken war’s noch, aber ebenso gut
konnte jeden Moment ein Unwetter losbrechen, und die schneidende Kälte rötete
Gesichter und Ohren.
„Das wird ein düsterer Abend“,
meinte Klößchen. „Das richtige Wetter für Geisterbeschwörung.“
„Weißt du, was ich mir überlegt
habe?“ sagte Tarzan nachdenklich. Er hatte den Jackenkragen hochgeklappt und
die Hände tief in den Taschen. Aber selbst wenn er schlurfte und latschte,
wirkte sein Gang federnd. Man merkte eben gleich, daß er ein toller Sportler
war.
„Nee“, antwortete Klößchen und
meinte, daß er nicht wissen könne, was Tarzan sich überlegt hatte.
„Wenn dieser Raimondo was mit
Volkers Entführung zu tun hat, dann ist er nicht nur ein ganz kaltblütiger
Hund, sondern auch ein höchst raffinierter Verbrecher.“
Klößchen nickte, fragte aber:
„Wieso?“
„Weil er bei den Verwandten
seines Opfers ein- und ausgeht und damit aus erster Quelle erfährt, was die
Polizei unternimmt. Gegen ihn. Dazu gehört enorm viel Kaltblütigkeit.“
„Und raffiniert ist es auch.“
„Raffiniert ist noch was
anderes: Daß er doppelt kassiert.“
„Doppelt?“ fragte Klößchen.
„Überleg’ doch! Wenn er Glück
hat, kriegt er das Lösegeld. Außerdem läßt er sich von Frau Krause für
hellseherische Hinweise bezahlen, die zu Volkers Rettung führen sollen.“
„Du hast recht“, staunte
Klößchen. „Der ist aber wirklich mit allen Wassern gewaschen. Nur...“ Er
stockte.
„Was ist?“
„Nur eins verstehe ich nicht:
Wie kann ein Blinder einen 14jährigen, ziemlich kräftigen Jungen entführen?“
„Raimondo hat natürlich
Komplicen.“
„Du meinst Amanda?“
„Die wäre mit Volker nicht
fertiggeworden. Aber... Klar! Stell dir vor, Raimondo und Mario Frasketti
stecken unter einer Decke!“
Das war für Klößchens Phantasie
nun doch eine zu kühne Idee. Aber er meinte: „Naja, möglich ist alles.“
„Man weiß ja auch gar nicht“, fuhr
Tarzan fort, „Wie und wo Volker entführt wurde. War er noch draußen? Hat man
ihn auf der Straße geschnappt? Oder im Garten? Kam jemand an die Haustür —
jemand, den er kannte und einließ? Bis jetzt — du hast es von Gabys Vater
selbst gehört — tappt die Polizei völlig im Dunkeln.“
Eine Weile gingen sie
schweigend durch den Park. Dann sagte Klößchen, daß er friere und reinwolle.
Tarzan ging mit. Er mußte Dr.
Meinert verständigen.
Natürlich hatte der
Geschichtslehrer von Volkers Schicksal keine Ahnung. Er hielt den Jungen für
krank und erkundigte sich nach seinem Befinden, als Tarzan sagte, daß er heute
abend bei den Krauses eingeladen sei.
„Tja, eh... wie es Volker im
Augenblick geht, weiß ich nicht“, antwortete Tarzan. „Aber ich glaube, es wird
wohl noch einige Tage dauern, bis er wieder zum Unterricht kommt.“
Und das war — buchstäblich —
Wort für Wort wahr.
„Grüß’ ihn von mir. Und auch
seine Eltern. Ich wünsche ihm gute Besserung. Aber punkt zehn, Tarzan, bist du
zurück.“
13.
Überraschung bei Krauses
Klößchen behielt recht. Der
Abend wurde düster und schaurig. Schon gegen sechs war der Himmel pechschwarz.
Sturm fauchte, rüttelte an Fensterläden, warf im Park Papierkörbe um und fuhr
heulend in die Schornsteine. Es war das geeignete Wetter für eine Kartenpartie
im gemütlichen Gemeinschaftsraum: Schafskopf, zum Beispiel, oder 66. Mutige
wagten sich allenfalls noch ins Hallenbad hinüber, wo das Wasser 26 Grad hatte.
Die meisten Schüler aber hockten in ihren Buden, hatten die Nachttischlampe an
und die Nase in spannende Bücher gesteckt.
Auch Klößchen las. Außerdem
hatte er sich zum Genuß einer Tafel Milchschokolade entschlossen.
Tarzan zog sich um.
„Freßsack!“ sagte er, mehr
nicht, denn momentan beschäftigten ihn andere Gedanken. Klößchens
Verfressenheit war jetzt kein Thema.
Klößchen, der auf seinem Bett
lag, wälzte sich zur anderen Seite.
„Heute penne ich garantiert
nicht ein. Heute will ich jede Einzelheit wissen, wenn du zurückkommst. He, was
ist?“
Die Frage war berechtigt. Denn
ohne ersichtlichen Grund brach Tarzan plötzlich in wieherndes Gelächter aus,
fiel aufs Bett und verschluckte sich fast.
„Du... du glaubst es nicht,
Willi! Weißt du, was ich gleich um ein Haar getan hätte... Auf den Speicher
wäre ich geschlichen, hätte
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