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Der blinde Hellseher

Der blinde Hellseher

Titel: Der blinde Hellseher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Wolf
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das nicht böse. Volker hat auch niemals was gegen
sie gesagt. Nur an Kleinigkeiten konnte man’s merken. Frau Krause hat sich
immer mit diesem Hokuspokus hier beschäftigt. Und Volkers Vater kennt nur seine
Baufirma.“
    „Das hättet ihr mir gleich
sagen sollen. Ah, da kommt wohl das übersinnliche Paar.“
    Tarzan konnte zwar in die Diele
sehen, aber nicht zur Eingangstür. Als Empfangskomitee waren Suzanne und Frau
Krause dorthin geeilt — tatsächlich geeilt —, nachdem es geklingelt hatte.
Jetzt hörte man Stimmen, und die Bergers und Kleinschmidts machten lange Hälse,
obwohl sie — wie Tarzan dann merkte — Raimondo und Amanda schon kannten.
    „Komm’, wir nehmen uns ein
Glas!“ flüsterte Kommissar Glockner. Sie gingen zur Hausbar, wo alles
bereitstand. Herr Glockner griff nach einem Bier. Tarzan schenkte sich eine
Cola ein und tat sogar einen Zitronenschnitzel ins Glas, wie er’s mal in einem
Restaurant gesehen hatte.
    Raimondo und sein Medium hatten
inzwischen die Mäntel abgelegt. Jetzt kamen sie herein.
    Edith Krause ging voran. Zwei
hektische rote Flecke hatten sich auf ihren Wangen gebildet. Sicherlich — sie
wirkte immer noch niedergedrückt, aber nicht mehr ganz so schlimm wie vorhin.
Ihre Bewunderung für Raimondo und sein Medium schien keine Grenzen zu kennen.
    Der Hellseher war gekleidet wie
gestern abend. Während er von Amanda hereingeführt wurde, hielt er den Kopf
gehoben und so starr, als wäre sein Genick versteift. Der kahle Piratenschädel
glänzte rotbraun wie bei einem Indianer, der Mongolenschnurrbart lackschwarz.
Er hatte Wulstlippen, wie Tarzan jetzt sah, und kleine Narben auf der
Sichelnase — Narben wie Eissplitter. Vor diesem Gesicht konnte man sich
fürchten — wenn man weniger beherzt war als Tarzan. Aber das Schlimmste blieben
die Augen. Sie hatten keine Pupillen. Alles war einheitlich milchig und grau.
    Tarzan starrte ihn an und hätte
beinahe gefröstelt. Dann betrachtete er die Frau. Amanda war hübsch — aber sie
erinnerte an Eis. Alles an ihr war zu hell: Das silberblonde Haar, die
wasserblauen Augen, die Haut. Während sie Raimondo behutsam am Arm führte,
regte sich nichts in ihrem Gesicht. Es blieb maskenhaft starr. Aber für einen
Moment fühlte Tarzan ihren Blick auf sich — kühl und abschätzend.
    Ich mag sie nicht, dachte er.
Genau so wenig wie ihn. Das sind Betrüger, die notfalls über Leichen gehen.
    „Liebe Freunde“, sagte Frau
Krause mit leichtem Beben in der Stimme. „Unser großer Meister Raimondo ist
wieder zu uns gekommen. Ihm und Amanda, die als Medium in die Geschichte des
Spiritismus eingehen wird, verdanke ich schon so viel. Heute abend wollen wir
versuchen, nicht mit dem Totenreich Verbindung aufzunehmen, sondern... mit...
mit...“
    Sie konnte nicht
weitersprechen. Ihre Stimme zitterte. Plötzlich hatte sie Tränen in den Augen.
Doch dann fing sie sich und fuhr fort: „Wir wollen mit Volker Verbindung
aufnehmen, unserem Sohn. Wie Sie alle wissen, hat ihn ein schreckliches
Schicksal von uns weggerissen. Verbrecher haben ihn entführt. Wir werden jedes
Lösegeld zahlen. Aber wir wollen auch sonst alles tun, damit unser Volker
gesund und wohlbehalten zu uns zurückkehrt.“
    Nach ihren Worten war es
sekundenlang totenstill.
    „Fremde sind hier“, sagte
Raimondo.
    Seine Stimme knarrte wie eine
rostige Türangel.
    „Ja, Meister“, hauchte Edith
Krause. „Mein Mann ist heute dabei. Er... er schätzt Sie sehr — nach allem, was
ich von Ihnen berichten konnte. Und dann sind da noch zwei Freunde des Hauses:
Herr Kramer, der sich sehr für unsere Séance interessiert. Und Peter Carsten.
Er ist Volkers Freund und in seinem Alter.“
    Herrn Glockner als Herrn Kramer
vorzustellen, dachte Tarzan, fällt ihr sicherlich unsagbar schwer. Bestimmt ist
sie innerlich ganz erfroren vor Angst, weil sie ihren Hellseher belügt.
Vielleicht denkt sie auch, er merkt es.
    Tarzan sah die Bergers an und
die Kleinschmidt. In allen Gesichtern stand Bewunderung, Frau Kleinschmidt
lächelte verklärt. Hatte Raimondo, der Seher, nicht soeben einen schlagenden
Beweis geliefert für sein inneres Auge — oder wie immer man das nennen will?
Hatte er nicht sofort gemerkt, daß Fremde hier waren, obwohl weder der
Kommissar noch Herr Krause oder Tarzan ein Wort flüsterten?
    Wie naiv manche Leute sind,
dachte Tarzan verächtlich, wenn sie sich in eine Idee verrennen. Natürlich ist
das ganze ein Trick. Nichts als Zeichensprache zwischen Raimondo und seinem
Medium.

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