Der blinde Hellseher
wenig, nur einen
winzigen Spalt. Dann senkte er die Lider wieder und kratzte sich mit dem
Daumennagel am Kopf.
Blitzartig begriff Tarzan, daß
der Zufall ihm die Hand reichte. Jetzt war niemand im Haus. Also...!
Leise, unendlich leise zog er
sich hinter die Ecke zurück. Er lief nach vorn — zur Haustür.
Sie war aus schwerem Holz und
hatte eine derbe Klinke mit altmodischem Schloß. Vorsichtig drückte Tarzan auf
die Klinke. Enttäuscht nahm er die Hand zurück. Abgeschlossen!
So ein Pech! Die waren aber
mißtrauisch, die beiden!
In diesem Moment hatte Tarzan einen
tollkühnen Einfall. Und er zögerte keine Sekunde. Denn es gab eine Möglichkeit,
heimlich ins Haus zu kommen. Er mußte nur den Schlüsselring an sich bringen.
Als er wieder zu der hinteren
Hausecke schlich, hämmerte ihm das Blut in den Ohren. Sein Herz pumperte wild,
und ein bißchen wurden ihm sogar die Hände feucht.
Er atmete ruhig und lautlos, um
seiner Aufregung Herr zu werden.
Raimondo hatte seine Haltung
nicht verändert. Er döste. Daß er die Zeitung, die dört lag, nicht lesen
konnte, war klar. Wahrscheinlich hatte Amanda ihm daraus vorgelesen.
Tarzans Augen suchten den Boden
ab.
Lag da krümeliger Sand, der
unter seinen Füßen knirschen würde? Der Boden war glatt und mit rötlichen
Ziegeln ausgelegt. Zwar wucherten Grasbüschel in den Spalten. Aber nichts lag
herum, das ein verdächtiges Geräusch machen konnte.
Lautlos rückte Tarzan vor,
einen Fuß vorsichtig vor den anderen gesetzt. Daß nur seine Kleidung nicht
schabte!
Wieder blinzelte Raimondo.
Jetzt hatte Tarzan den Tisch
fast erreicht.
Ducken mußte er sich, damit
sein Schatten nicht auf den Mann fiel. Denn die Sonne war genau hinter Tarzan,
und sehr hoch stand sie nicht.
Jetzt konnte er den Korbtisch
berühren. Aber wie sollte er den Schlüsselring aufnehmen, ohne daß etwas
klirrte?
Er streckte beide Hände aus.
Alle vier Schlüssel mußte er fassen und so festhalten, daß sie einander nicht
berührten. Dann würde es gehen.
Der Hellseher bewegte sich.
Tarzan sah in sein Gesicht. Keinen Meter weit war es entfernt. Wieder zuckten
die Lider. Jetzt... jetzt öffnete er die Augen.
Keine Panik! hämmerte Tarzan
sich ein. Ruhig bleiben! Er kann dich nicht sehen.
Aber seine Kehle wurde trocken,
und die Knie waren ziemlich weich — butterweich, sozusagen.
Spaltweit hatte der Hellseher
die Augen geöffnet. Sie waren auf Tarzan gerichtet.
Er kann mich nicht sehen! Er
ist blind! Und jetzt nehme ich die Schlüssel!
Schon berührten seine
Fingerspitzen das Metall. Aber da war etwas — in dieser Sekunde — etwas, das
ihn warnte. Rasch blickte er auf.
Raimondo hatte die Augen
geöffnet. Aus nächster Nähe starrten sie in Tarzans Gesicht: Hellblaue,
durchdringende, klare Augen — an denen nichts mehr milchig und grau war wie
gestern abend. Sie hatten Pupillen.
Das war wie ein Schock.
Sekundenlang fühlte Tarzan sich
gelähmt.
Schon schoß Raimondos Hand vor
und packte Tarzans Unterarm. Gleichzeitig schnellte der Mann aus seinem
Liegestuhl.
Der... ist gar nicht blind!
fuhr es Tarzan durch den Kopf.
Mit einer Drehbewegung wand er
sich los. Er warf sich herum, stolperte und spürte Raimondo hinter sich.
Der Sturz war unvermeidlich.
Aber Tarzan reagierte gedankenschnell, riß einen Arm hoch, drehte eine
Judo-Rolle und — stand.
Aber das hatte Zehntelsekunden
gekostet. Die entschieden.
Tarzan wurde von hinten
gepackt. Brutal schlang sich ein würgender Arm um seinen Hals. Tarzan ging mit,
stemmte aber die Beine ein und brachte sich, indem er in der Hüfte abknickte,
in die richtige Position.
Mit aller Kraft rammte er den
Ellbogen nach hinten.
Der Mann wurde auf den kurzen
Rippen getroffen, etwa dort, wo die Leber sitzt. Er gab einen Laut von sich,
als gurgele er Luft, ließ augenblicklich los und krümmte sich wie in
Zeitlupentempo zusammen.
Tarzan sprang einen Schritt
zurück, massierte seinen Hals und beobachtete den Kerl.
Der hatte genug. Sein Gesicht
war nicht mehr bronzebraun, sondern fahl. Er japste nach Luft und hatte Mühe,
nicht auf die Knie zu sinken.
„Verfluchter Bengel!“ keuchte
er. „Dich werde ich...“
„Nichts werden Sie, Herr
Biersack! Aber ich werde Frau Krause ein Licht aufstecken. Darüber zum
Beispiel, daß Sie den Blinden spielen, um sich interessant zu machen. Von wegen
innere Augen! Sie Betrüger! Wie gut sehen Sie eigentlich durch Ihre milchigen
Haftschalen, wenn Sie als Hellseher auftreten? Sind doch Haftschalen,
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