Der blinde Passagier
sein. Weshalb — das wußte kein Mensch.
Die gegenseitige Abneigung reichte aber nicht bis zum Kriegszustand. Die Sache war damit erledigt, daß man einander übersah. Die Untertertia des Maximilianeums war Luft für die Untertertia der Eberhard-Ludwig-Schule. Und umgekehrt war es genauso.
Die vier Bahnen mit den Startblöcken 1-4 des Schwimmbeckens gehörten der Eberhard-Ludwig-Schule. Die Bahnen 5-8 waren dem Maximilianeum zugeteilt.
Turnlehrer Schubert ließ auf seiner Seite zunächst einmal jeden Untertertianer machen, was er wollte. Er nannte das „zehn Minuten Feld, Wald und Wiese“.
Herr Wiesenbügel fing gleich mit dem Rückenschwimmen an. Die Untertertianer vom Maximilianeum mußten ihre Arme über der Brust kreuzen und durften nur ihre Beine zur Fortbewegung benutzen.
„Sie liegen im Wasser wie Frösche, die sich überfressen haben“, konstatierte der Sheriff und sprang mit einer eleganten Drehung kopfüber ins Wasser.
Die Bademeister, deren Aufgabe es war, in Notfällen Erste Hilfe zu leisten, verdrückten sich zum Frühstück in ihre Kabinen. Hier wurden sie vorläufig nicht gebraucht.
Matthias Kiekebusch betätigte sich zwischen den Bahnen 1-4 als U-Boot. Er tauchte nur immer kurz auf, um neue Luft zu tanken. Aber sobald einer der Untertertianer laut aufquietschte, wußte man, wo er sich gerade herumtrieb.
„Bei mir kommen einfach keine Muskeln“, beklagte sich der kleine Ulli Wagner. Er hatte seine ziemlich schmale Brust aufgepustet und betrachtete sich, so gut es ging.
„Viel ist es allerdings nicht“, mußte Peter Schimmelpfennig zugeben. „Aber ich bin sicher, das kommt noch.“
Die beiden hingen mehr oder weniger in einer Ecke des Schwimmbassins nebeneinander. Sie hatten sich mit ihren Ellbogen auf die Abflußrinne gestützt.
„Dabei esse ich zu Hause alles, was auf den Tisch kommt. Und Lebertran nehm’ ich noch dazu, obwohl er schmeckt wie angebrannte Salzsäure.“ Ulli Wagner war nahe dran, an der Welt zu verzweifeln.
„Du mußt jeden Morgen mehrere Liegestütze machen“, schlug Peter vor, „überhaupt jede Art von Bewegung.“
„Stimmt!“ unterbrach ihn Ulli Wagner, zog die Beine an und stieß sich ab.
Auch Peter wollte sich gerade in Bewegung setzen, da tauchte der Sheriff vor ihm auf. „Na, wie fühlst du dich?“ Er grinste und ließ dabei das Wasser durch eine Lücke zwischen seinen beiden Vorderzähnen zischen. Das war eines seiner Kunststücke, die er gern vorführte.
„Abwarten!“ meinte Peter nur kurz und schwamm auf die Startblöcke zu. Von dort hatte nämlich gerade Herr Schubert mit seiner Trillerpfeife das Zeichen zum Antreten gegeben. Die zehn Minuten Feld, Wald und Wiese waren vorbei.
Die Untertertia der Eberhard-Ludwig-Schule versammelte sich bibbernd und klitschnaß an der Vorderseite der Halle. Und man konnte wirklich eine Gänsehaut kriegen, wenn man durch die riesige Glasscheibe guckte. Es hatte wieder ganz leicht zu schneien angefangen. In unmittelbarer Nähe des Schwimmbades waren in Jacken und Wollschals vermummte Männer dabei, von einem Lastwagen vereiste Christbäume abzuladen.
Turnlehrer Schubert fing seinen Unterricht jedesmal mit Brustschwimmen an. Dabei achtete er darauf, daß die Bewegungen der Arme und Beine schulmäßig exakt durchgeführt wurden. So, als cei es die allererste Schwimmstunde überhaupt. „Das Einfachste ist immer das Schwierigste und die Voraussetzung für alles andere“, war seine Meinung. Später wurde dann gekrault, auf dem Rücken geschwommen und Schmetterlingsstil geübt.
Beinahe gleichzeitig pusteten dann auf einmal die Herren Schubert und Wiesenbügel in ihre Trillerpfeifen. Das war verabredet, und jetzt war es soweit.
Peter Schimmelpfennig biß sich unwillkürlich auf die Unter-lippe und kletterte aus dem Wasser. Er hatte den Gedanken an das, was ihm nun bevorstand, noch bis zur letzten Minute verdrängt. Aber jetzt war dieser Augenblick da, und alles Versteckspielen hatte keinen Sinn mehr.
Und darum ging es: Am Anfang eines jeden neuen Jahres mußten von der Schulverwaltung des Bezirks die Schwimmstunden neu eingeteilt werden. Genauer gesagt ging es darum, die Bäder für die einzelnen Schulen festzulegen. Und selbstverständlich wollten alle am liebsten ins moderne Bad am Hansaplatz. Es hatte sich herausgestellt, daß ab Jahresbeginn entweder die Eberhard-Ludwig-Schule oder das Maximilianeum in die städtische Badeanstalt in der Krefelder Straße umziehen mußte. Und das war ein alter
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