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Der blinde Passagier

Der blinde Passagier

Titel: Der blinde Passagier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alfred Weidenmann
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Brille zum Sprungbrett hinauf.
    Stille senkte sich über die Halle. Bis zu diesem Augenblick hatten beide Schulen die gleiche Punktzahl. Jetzt mußte die Entscheidung fallen.
    Peter Schimmelpfennig war beileibe kein unsportlicher Junge. Im Schwimmen zum Beispiel war er sogar einer der Besten, und beim Basketball gehörte er mit dem Sheriff zusammen zu den Stürmern. Aber sobald er auf einem Sprungbrett stand, riß bei ihm der Faden.
    Das war übrigens schon immer so gewesen. Und seit eh und je hatte Frau Schimmelpfennig in den Freibädern mit ihrem Jungen einen großen Bogen um alle Sprungbretter gemacht: „Was nicht geht, geht nicht. Basta!“
    Peter hatte das Zehnmeterbrett erreicht und ging auf den Absprung zu. Er ging aufrechter als gewöhnlich, und seine Lippen waren eng zusammengepreßt. Als er das Ende des Bretts ereicht hatte, blieb er stehen.
    Peter Schimmelpfennig hatte sich diesen Augenblick in den letzten Tagen immer wieder vorzustellen versucht. Er hatte sich vorgenommen, einfach die Augen zuzumachen und zu springen, wenn er diesen Punkt erreicht hätte.
    Peter spürte mit seinen Zehen die kalte Kante des Bretts. Er holte tief Luft und schloß die Augen.
    Der kleine Ulli Wagner machte eine halbe Sekunde später das gleiche. Er konnte einfach nicht mehr mit ansehen, wie sein Freund da oben stand. Und es mußte ja jeden Augenblick vorbei sein. Er wartete nur auf das Geräusch des Absprungs und dann auf den Aufschlag im Wasser.
    Aber es verging eine Sekunde nach der anderen, ohne daß etwas passierte.
    Bis dann eine Stimme zu hören war. Nicht sehr laut.
    „Ich kann das wirklich nicht“, sagte Peter Schimmelpfennig. Das klang nicht traurig und nicht bemitleidenswert. Es hörte sich vielmehr genauso an, als habe zum Beispiel irgendein Schüler im Physikunterricht gerade festgestellt, daß sich Natrium erst bei fünfundsechzig Grad mit Wasserstoff verbindet. Peter Schimmelpfennig drehte sich um und ging den gleichen Weg, den er gekommen war, wieder zurück.
    Die Untertertianer des Maximilianeums jubelten und fingen gleichzeitig an, den Namen des dicklichen Jungen mit der giftigen grünen Badehose zu rufen. Sie waren jetzt natürlich ganz aus dem Häuschen.
    Und der Sheriff war einfach sprachlos. Genauso sprachlos wie die übrigen Jungen seiner Klasse.
    „Hat man da noch Töne“, zischte der Schüler Kiekebusch.
    Herr Schubert aber meinte leise: „Alle Achtung!“
    „Wie bitte?“ wollte der Sheriff wissen. Aber eigentlich erwartete er gar keine Antwort. Er ließ nur die Luft durch die Lücke zwischen seinen Vorderzähnen zischen und sagte enttäuscht: „So eine Knalltüte!“
    Der dickliche Untertertianer vom Maximilianeum war durch Peter Schimmeipfennigs Beispiel offensichtlich ermutigt worden. Er machte sich gar nicht erst die Mühe, bis ans Ende des Sprungbretts zu gehen. Er blieb in seiner grünen Badehose schon auf halbem Weg stehen, rückt seine Hornbrille zurecht und lächelte vergnügt. „Ich möchte mich den Worten meines Vorredners anschließen“, gab er bekannt. Daraufhin verbeugte er sich höflich nach allen Seiten und kletterte wie Peter Schimmelpfennig die Leiter hinunter.
    Seine Untertertia pfiff und johlte.
    Dieser Junge schien eine ganz besondere Nummer zu sein.
    Das alles kümmerte ihn nämlich nicht. „Darf ich nun auch mal was sagen?“ fragte er freundlich, als er wieder am Boden war. Man erlaubte es ihm.
    „Schön, dann paßt mal auf, ihr Idioten!“ Der dickliche Junge wartete, bis alles ruhig war, und sagte dann: „Mir ist schon schummerig vor den Augen, wenn ich nur in der Straßenbahn zum Fenster hinausgucke. Das ist so, seitdem ich aus meinem Kinderwagen raus bin. ,Schwindelkrank’ nennt man das oder so ähnlich. Ich darf eigentlich nicht mal auf einen Stuhl klettern, weil zu erwarten ist, daß ich gleich wieder runterfalle. Und jetzt verlangt ihr von mir, daß ich von einem Wolkenkratzer springe.” Er sah zu dem Zehnmetersprung-brett hinauf und schüttelte den Kopf. „So, und wer jetzt noch kariert daherredet, den merke ich mir.“ Das war eine deutliche Drohung, die alle Maximilianeum-Tertianer verstanden. Der dickliche Junge mit der Hornbrille war nämlich ihr Primus und im allgemeinen mit seinem Wissen freigebig wie ein Multimillionär nach dem ersten Herzanfall. Ein großer Teil der Klasse war auf diese Freigebigkeit angewiesen — besonders bei gewissen lateinischen Hausarbeiten.
    „Also wieder einmal unentschieden“, gab Turnlehrer Wiesenbügel abschließend

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