Der Blinde Uhrmacher - Ein neues Plädoyer für den Darwinismus
überrascht es kaum, wenn früher oder später eine Blaupause auftritt, die diesen Maschinen sagt, Kopien von sich selbst herzustellen. Die Fabrik füllt sich an mit immer mehr dieser bösartigen Maschinen, und jede sprudelt bösartige Blaupausen zur Herstellung von mehr Maschinen heraus, die wiederum mehr von ihnen bauen. Schließlich zerplatzt das unglückliche Bakterium und setzt Millionen von Viren frei, die neue Bakterien infizieren. Soviel zum normalen Lebenszyklus eines Virus in der Natur.
Ich habe RNS-Replicase und RNS eine Maschine und eine Blaupause genannt. Und das sind sie auch, in einem gewissen Sinn (der vor einem anderen Hintergrund in einem späteren Kapitel noch diskutiert werden soll); aber sie sind auch Moleküle, und menschliche Chemiker können sie isolieren, in Flaschen abfüllen und in einem Regal aufbewahren. Genau das haben Spiegelman und seine Kollegen in den 60er Jahren in Amerika getan. Dann gaben sie die beiden Moleküle zusammen in eine Lösung, und etwas Faszinierendes geschah. Im Reagenzglas fungierten die RNS-Moleküle, unter Mithilfe der Präsenz der RNS-Replicase, als Schablonen für die Synthese von Kopien ihrer selbst. Werkzeugmaschinen und Blaupausen waren getrennt voneinander extrahiert und im Kühlraum gelagert worden. Dann, sobald sie in Wasser wieder Zugang zueinander und ebenso zu den kleinen Molekülen hatten, die als Rohmaterialien nötig sind, fielen beide in ihre alten Tricks zurück, auch wenn sie sich nicht mehr in einer lebenden Zelle, sondern in einem Reagenzglas befanden. Von hier ist es nur ein kurzer Schritt zur natürlichen Auslese und Evolution im Laboratorium. Es ist lediglich eine chemische Version der Computerbiomorphe. Die experimentelle Methode besteht im wesentlichen dann, eine lange Reihe von Reagenzgläsern aufzustellen, von denen jedes eine Lösung von RNS-Replicase sowie von Rohmaterialien, den kleinen Molekülen zur RNS-Synthese, enthält. Jedes Reagenzglas enthält die Maschinenwerkzeuge und das Rohmaterial, aber bis jetzt ist alles still, tut nichts, denn es fehlt ihm die Blaupause, nach der es arbeiten soll. Nun wird eine winzige Menge RNS in das erste Reagenzglas getropft. Der Replicase-Apparat macht sich unverzüglich an die Arbeit und erzeugt Unmengen von Kopien der gerade erst hinzugegebenen RNS-Moleküle, die sich über das Reagenzglas verteilen. Nun wird aus dem ersten Reagenzglas ein Tropfen der dortigen Lösung entnommen und in das zweite Reagenzglas eingegeben. Der Vorgang wiederholt sich in dem zweiten Reagenzglas, und dann wird hier ein Tropfen entnommen und zum Impfen des dritten Reagenzglases benutzt usw.
Gelegentlich entsteht, aus zufälligen Kopierfehlern, spontan ein geringfügig anderes mutantes RNS-Molekül. Wenn aus irgendeinem Grund die neue Varietät der alten überlegen ist, überlegen in dem Sinne, daß sie, vielleicht wegen ihrer niedrigen »Klebrigkeit«, schneller oder auf andere Weise effizienter kopiert wird, so wird sich die neue Varietät über ihr ursprüngliches Reagenzglas verteilen und ihren Elterntyp bald zahlenmäßig überflügeln. Wenn dann ein Tropfen der Lösung aus diesem Reagenzglas entnommen wird, um das nächste Reagenzglas zu impfen, wird es die neue mutante Varietät sein, die dort weiterwächst. Wenn wir die RNS in einer langen Aufeinanderfolge von Reagenzgläsern untersuchen, so sehen wir etwas, das wir nur als evolutionären Wandel bezeichnen können. In der Konkurrenz überlegene RNS-Varietäten, die am Ende von mehreren Reagenzglas-»Generationen« erzeugt worden sind, kann man in Flaschen abfüllen und für zukünftige Verwendungen benennen. Eine Varietät z. B. namens V2 verdoppelt sich viel schneller als normale Q-beta-RNS, wahrscheinlich deshalb, weil sie kleiner ist. Im Unterschied zur Q-beta-RNS braucht sie sich nicht die Mühe zu machen, die Pläne zur Herstellung von Replicase selbst zu liefern. Replicase wird von den Experimentatoren »gratis« zur Verfügung gestellt. Leslie Orgel und seine Kollegen in Kalifornien benutzten V2-RNS als Ausgangspunkt für ein interessantes Experiment, in das sie eine »schwierige« Umwelt einführten.
Sie fügten ihren Reagenzglaslösungen ein Gift namens Äthidiumbromid zu, das die RNS-Synthese unterbindet: es verhindert das Funktionieren der Maschinenwerkzeuge. Orgel und Kollegen fingen mit einer schwachen Lösung des Giftes an. Zuerst verlangsamte das Gift die Rate der Synthese, aber nach der Evolution über ungefähr neun Reagenzglas-Übertragungs-
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