Der Blinde von Sevilla
Ein Mädchen hatte seine Liebe nicht erwidert. Offenbar war er aus reinem Trotz gegen sie Priester geworden, und am Ende hatte er nur sich selbst geschadet. 40 Jahre lang hatte dieser Priester das gewusst … ohne es zu wissen. Er war ein guter Priester, doch das spielte keine Rolle, weil es diesen Makel im Gebäude seines Lebens gab, eine winzige Lüge, auf der alles andere basierte.«
»Was ist aus ihm geworden?«, fragte Ramírez.
»Er hat sich am folgenden Tag erhängt«, sagte Falcón. »Was bleibt einem schon übrig, wenn man Priester ist und sein ganzes Leben die Suche nach Wahrheit in Gottes Wort gepredigt hat?«
»Mein Gott«, sagte Ramírez, »deswegen muss man sich doch nicht gleich umbringen. Man muss das Leben nicht so ernst nehmen.«
»Genau deshalb hat mein Vater mir die Geschichte erzählt«, erwiderte Falcón. »Ich hatte ihm erklärt, dass ich Künstler werden wollte … genau wie er. Er hat mich gewarnt, weil es auch in der Kunst um die Suche nach Wahrheit geht, egal ob diese Wahrheit persönlich oder universell ist.«
»Ich verstehe«, sagte Ramírez und klopfte lachend aufs Lenkrad.
»Jetzt verstehen Sie«, sagte Falcón. »Was wir wissen, ohne es zu wissen.«
»Scheiß darauf! Ich weiß jetzt, warum Sie Polizist geworden sind«, sagte er johlend.
»Sagen Sie’s mir.«
»Die Suche nach Wahrheit. Leck mich, das ist wirklich genial«, sagte Ramírez. »Jetzt sind wir alle beschissene Künstler.«
War es das gewesen? Nein. Denn als er die Idee, Künstler zu sein, überwunden und die Zweifel seines Vaters an seinem Talent verarbeitet hatte, hatte er ihm erklärt, dass er stattdessen Kunsthistoriker werden wollte, und sein Vater hatte ihn offen ausgelacht. »Kunsthistoriker sind bloß Polizisten, die mit Gemälden arbeiten, immer auf der Suche nach Indizien. Sie verbringen ihr Leben mit Spekulationen und Mutmaßungen und liegen in 90 von 100 Fällen daneben. Kunstgeschichte ist etwas für Versager«, hatte er gesagt. »Etwas für Menschen, die nicht nur als Künstler gescheitert sind, sondern auch als Menschen.« Wie viel Spott sein Vater für diese Leute übrig hatte … Also hatte er sich für eine Karriere bei der Polizei entschieden. Nein, so war es auch nicht ganz gewesen. Er hatte an der Universität in Madrid Englisch studiert (das einzige Volk, für das sein Vater neben den Spaniern überhaupt Geduld gehabt hatte) und eine Vorliebe für die amerikanischen Filme der série noir der 40er Jahre entwickelt. Dann war er Polizist geworden.
Er fühlte sich gehetzt, als wäre er aus tiefem Schlaf hochgeschreckt – dabei war er die ganze Zeit wach gewesen, und seine Gedanken waren leuchtend und flink an ihm vorbeigehuscht wie ein Schwarm Sardinen. Er schüttelte den Kopf, um ins wirkliche Leben zurückzufinden.
»Hat Serrano schon irgendwas wegen des Chloroforms und der chirurgischen Instrumente herausgefunden?«, fragte er, um sich zu beruhigen.
»Bis jetzt noch nicht.«
Sie hielten vor dem Friedhof. Ramírez griff nach der Videokamera auf der Rückbank, Falcón lungerte auf dem Bürgersteig herum und betrachtete die große Menschenmenge, die Wand aus Blumen vor der Kapelle und den blauen Himmel, der die Szenerie beinahe fröhlich wirken ließ. Dort stand Consuelo Jiménez; ihre verwirrten Kinder verschwanden fast zwischen einem Wald aus Erwachsenenbeinen. So klein war auch Falcón einmal bei einer Beerdigung gewesen.
Sie mussten den Segen verpasst haben, denn der Sarg wurde aus der Kapelle getragen und in einen Wagen verladen, der sich, gefolgt von den Trauernden, in Bewegung setzte und die kleine Prozession über eine Zypressenallee in die Mitte des Friedhofs führte. Hinter einer Buchsbaumhecke erhoben sich Mausoleen und Monumente sowie eine riesige Bronzestatue des Toreros Francisco Rivera in seinem Lichtgewand, in einer Hand ein abgebrochenes Schwert, in der anderen einen imaginären Umhang, während ein unsichtbarer Stier auf alle Zeiten an ihm vorbeipreschte.
Dann hielt der Wagen, der Sarg wurde entladen, in das Granitmausoleum getragen und gegenüber dem einzigen anderen Bewohner abgesetzt – Raúl Jiménez’ erster Frau. Consuelo Jiménez nahm die Beileidsbekundungen derjenigen Trauergäste entgegen, die vor der Kapelle nicht bis zu ihr vorgedrungen waren. Falcón warf einen Blick in das Mausoleum. Das Fach unter Jiménez’ erster Frau war nicht ganz leer. In der Ecke stand eine Urne, die zu klein war, um Asche zu enthalten. Er leuchtete mit seiner Stiftlampe auf die
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