Der Blinde von Sevilla
entweder menschenfreundlich und geduldig aus den Leuten herauspressen oder danach graben … manchmal an so kargen Orten wie auf Friedhöfen oder in Adressenlisten.«
»Aber Sie glauben selbst nicht so recht, dass diese Quellen irgendeine Bedeutung für den Fall haben?«
»Natürlich habe ich meine Zweifel, aber ich tue es, weil es vielleicht etwas zutage fördert, aus dem sich indirekt eine Spur entwickeln könnte.«
»Zum Beispiel?«
»Zum Beispiel das, worüber Sie vorgestern Abend gesprochen haben. Wie hieß der Typ noch – Cinco Bellotas?«
»Joaquín Lopez.«
»Die Jungs, die Señora Jiménez gefeuert hat, haben zwei Männer miteinander reden sehen. Wir wissen nicht, worum es in diesem Gespräch ging. Es könnte eine Relevanz für den Fall haben oder aber überhaupt nichts damit zu tun haben. Wir müssen es uns ansehen.«
»Aber Sie glauben trotzdem nach wie vor, dass es sich um die Tat eines gestörten Verstandes handelt?«
»Ein normaler Verstand kann sich in einen gestörten verwandeln, wenn sein komplettes Leben bedroht ist.«
»Aber die ganze Filmerei, das Eindringen in die Wohnung, um sich dort zwölf Stunden lang zu verstecken …«
»Wir wissen nach wie vor nicht mit Sicherheit, dass er das getan hat. Ich neige eher zu der Annahme, dass ›er‹ eine Beziehung zu dem Mädchen angeknüpft, sich die notwendigen Informationen bei Mudanzas Triana besorgt und beides zusammengefügt hat, um in die Wohnung zu gelangen.«
»Und was ist mit der Horrorshow, die er für Jiménez inszeniert hat?«
»Nichts davon ist unvorstellbar«, sagte Falcón und zweifelte selbst an seinen Worten. »Es ist nicht undenkbar, oder?«
»Für mich schon.«
Wie wahr, dachte Falcón, und ein Bild von Marta Jiménez blitzte vor seinen Augen auf, Erbrochenes am Kinn und eine Augenbraue verpflastert. Ramírez war zu unkompliziert. Er würde immer Inspector bleiben, weil seine Fantasie nie weiter reichte als bis zum nächst höheren Posten. Sein Horizont war begrenzt.
»Was hat er ihm Ihrer Meinung nach gezeigt, Inspector?«
Ramírez bremste an einer Ampel, umklammerte das Steuer und wartete starren Blickes darauf, dass der Wagen vor ihnen losfuhr, während er versuchte, seine Gedanken in bisher ungedachte, verquere Bahnen zu lenken.
»Der Stoff, aus dem das Grauen ist«, fuhr Falcón selbst fort, »muss nicht unbedingt das wahrhaft Schreckliche sein.«
»Weiter«, sagte Ramírez, der froh war, dass sein seltsamer Chef ihm jetzt das kreative Denken abnahm.
»Betrachten wir mal uns selbst auf der Höhe unserer so genannten Zivilisation … ich meine, wir können sogar über Kannibalismus lachen, Herrgott noch mal. Nichts kann uns noch erschrecken … wir haben schon alles gesehen bis auf …«
»Bis auf was?«
Die Ampel sprang auf Grün, aber Ramírez fuhr nicht los. Autos hupten.
»Bis auf das, das nicht zu wissen wir beschlossen haben.«
»Ist das nicht genau das Undenkbare?«
»Ich meine Dinge, die wir über uns selbst wissen. Das ganz Private, tief Verborgene, das wir niemandem zeigen und das wir entschieden leugnen, weil wir mit dem Wissen nicht leben könnten.«
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden«, sagte Ramírez. »Wie kann man etwas wissen, ohne es zu wissen? Das ist doch lächerlich.«
»Als mein Vater in den 60er Jahren nach Sevilla zog, freundete er sich mit dem Priester an, der auf dem Weg zu der Kirche am Ende der Calle Bailén jeden Tag an seiner Tür vorbeikam. Mein Vater ging weder zur Kirche, noch glaubte er an Gott, aber sie besuchten dasselbe Café, und im Laufe der Jahre wurden sie über ihren Streitgesprächen Freunde. Eines Nachts gegen drei arbeitete mein Vater noch in seinem Studio, als er auf der Straße jemanden rufen hörte: ›Eh! Cabrón ! Du Arschloch! Du bist zu mir geschickt worden, oder nicht, Francisco Cabrón ?‹ Es war der Priester, nicht ruhig wie gewöhnlich, sondern wütend und halb verrückt. Seine Soutane war zerrissen, sein Haar zerzaust, und er trank Brandy aus der Flasche. Mein Vater ließ ihn herein, und der Priester rannte im Innenhof auf und ab und wütete gegen sich selbst und sein nutzloses Leben. An jenem Morgen hatte er das Heilige Abendmahl ausgeteilt, als plötzlich alles wieder hochgekommen war.«
»Er hatte seinen Glauben verloren«, sagte Ramírez. »Das passiert dauernd. Und dann finden sie ihn wieder.«
»Es war noch schlimmer. Er erklärte meinem Vater, dass er nie wirklich geglaubt hatte. Er hatte seine ganze klerikale Karriere auf eine Lüge gebaut.
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