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Der Blinde von Sevilla

Der Blinde von Sevilla

Titel: Der Blinde von Sevilla Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Wilson
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oder nach einer Weile wieder gekündigt worden waren. Nach allem, was Ramón Salgado gesagt hatte, erschien es unwahrscheinlich, dass Raúl Jiménez’ einzige mögliche Feinde Metzger, Fischhändler und Floristen waren, die den Auftrag, seine Restaurants zu beliefern, verloren hatten. Consuelo Jiménez blickte immer häufiger auf ihre teure Uhr, und Falcón ging zu den wichtigen Fragen über.
    »Damit hätten wir alles abgehakt, bis auf den Bauausschuss für die Expo ’92«, sagte er. »Kann ich die diesbezüglichen Dokumente sehen?«
    »Welche Dokumente?«, fragte sie.
    »Die Unterlagen Ihres Mannes.«
    »Die sind nicht hier«, sagte sie und rief die Sekretärin herein, »und auch nicht in der Wohnung.«
    Er stellte der Sekretärin dieselbe Frage, und diese bestätigte dies in ihrer gut einstudierten Antwort. Señora Jiménez begann, unter Verweis auf ihre Kinder aufs Tempo zu drücken. Falcón blieb auf seinem Stuhl sitzen, als sie ihre Sachen zusammensuchte und sich, mit den Fingernägeln auf ihre Handtasche trommelnd, neben der Tür aufbaute.
    »Das war überaus nützlich«, sagte er und meinte es auch so. Ihr wohlkalkulierter Besuch bei ihm zu Hause und die selektive Kooperation am heutigen Morgen hatten ihm nur allzu gut gezeigt, dass ihre Entschlossenheit sich erst in Ehrgeiz und dann in Skrupellosigkeit verwandelt hatte.
    Er fuhr zum Essen nach Hause. Encarnación hatte ihm einen großen Topf fabada Asturiana hingestellt – Bohnen, chorizzo und morcilla. Er hatte keinen Hunger, hoffte jedoch, dass er nach dem schweren Gericht und zwei Gläsern Rotwein einschlafen konnte. Mit nagenden Zweifeln an seinem Ermittlungsstil legte er sich hin. Sein Magen rumpelte wie üblich, seine Beine zuckten – er flehte um Schlaf, der nicht kommen wollte. Schließlich rief er Ramón Salgado an, doch als er endlich durchkam, fiel ihm ein, dass der nach San Sebastian gefahren war, um seine Schwester nach Madrid zu bringen.
    Auf der Fahrt zurück ins Büro waren seine Hände am Steuer feucht, und seine Eingeweide rumorten von der fettigen fabada. Seine Zunge fühlte sich an wie mit Wildleder bezogen, und er konnte sich auf keinen einzigen Gedanken konzentrieren, geschweige denn, ihn zu Ende zu denken. In der Avenida Républica de Argentinia hielt er am Straßenrand und rief seinen Hausarzt an, der ihn erst am nächsten Vormittag empfangen konnte. Also musste er noch eine ganze Nacht in diesem Zustand herumbringen – eine erschreckende Vorstellung. Er erinnerte sich daran, wie er noch vor fünf Tagen gewesen war, an jene herrliche Stabilität, Tränen brannten in seinen Augen, und er presste die Stirn aufs Steuer. Was war bloß los mit ihm?
    Er stieg aus dem Wagen, wischte sich die Augen und schüttelte sich. Dann ging er in die Bar und bestellte etwas, was er sonst nie trank – einen Brandy, wie die Helden aus amerikanischen Filmen. Der große Nervenberuhiger. Der Barkeeper rasselte ein paar Namen herunter – Soberano, Fundador. Irgendeinen, egal, und einen café solo , um den Alkohol in seinem Atem zu überdecken.
    Der Brandy schien seine Lunge zu zerreißen, und er musste einen Moment lang die Luft anhalten. Er tastete nach seiner Kaffeetasse, und der Barkeeper musterte ihn, während er eine Reihe von Gläsern polierte.
    »Noch einen?«, fragte er.
    Falcón nickte und konnte nicht glauben, was er tat. Die bernsteinfarbene Flüssigkeit rieselte in das Glas. Er wünschte, er hätte eine ähnlich sichere Hand wie der Barkeeper, die bloße Fähigkeit, eine Flasche ruhig über ein Glas zu halten. Er kippte den zweiten Brandy in einem Zug hinunter, verbrannte sich die Zunge an dem Kaffee, knallte einen Geldschein auf den Tresen und ging.
    Auf dem Parkplatz der Jefatura beruhigte er sich, indem er seine Handballen gegen die Schläfen presste. Von hier unten konnte er sehen, dass in seinem Büro Licht brannte. Ramírez saß mit dem Rücken zum Fenster, las in einer Akte und bemerkte etwas zu jemandem, der offenbar am Schreibtisch saß.
    Im Treppenhaus musterten ihn die Leute argwöhnisch, sodass er die Toilette ansteuerte und sich im Spiegel betrachtete. Sein Haar war zerwühlt wie die raue See, sein Gesicht gerötet, und seine Augen waren leicht blutunterlaufen. Sein Hemdkragen hing über seinem Revers, die Krawatte locker um seinen Hals. Die Schale zeigte Risse. Er tupfte sich das Gesicht mit kaltem Wasser ab, spürte ein plötzliches Drängen in seinen Eingeweiden und schloss sich in einer der Kabinen ein.

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